Irving Singer: Cinematic Mythmaking. Philosophy in Film, Cambridge, Mass.: MIT Press 2008, X + 245 S., ISBN 978-0-262-19589-8, GBP 18,95
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Wie bildet der Film Mythen aus? Inwiefern wirkt die Mythenbildung auf das menschliche Bewusstsein ein? Mit diesen programmatischen Überlegungen von Orson Welles leitet Irving Singer seine Studie "Cinematic Mythmaking: Philosophy in Film" ein. Beide Aspekte korrespondieren mit Singers Forschungsfragen: Er legt einerseits die besondere Rolle von Mythen für die Filmkunst und Philosophie anhand einer induktiven Methode, der detaillierten Filmanalyse dar und führt andererseits seine philosophische Kernthesen für den Film anhand ausgewählter Filmbeispiele ein. Singers Buch ist weniger als Monografie, sondern eher als Textsammlung ohne zusammenfassendes Schlusskapitel angelegt.
Hatte er in seinen früheren Veröffentlichungen zum Film, wie "Three Philosophical Filmmakers: Hitchcock, Welles, Renoir" (2004), ästhetische Aspekte im Gesamtwerk der drei Regisseure monografisch und komparatistisch untersucht, so widmet Singer sich im vorliegenden Band exemplarischen Filmen von den späten 1940er-Jahren bis in das 21. Jahrhundert. Dabei geht er den argumentativen Linien der zugrunde liegenden, bekannten Mythen nach. Literarische Vorlagen überwiegen; von Ovids "Metamorphosen" ("Pygmalion", "Dido und Aeneas"), Homers Epos der Odyssee bis hin zu mittelalterlicher Spielmannslyrik ("Tristan und Isolde") und spanischer Barockliteratur ("Don Juan"). Grundlage der Filmexegese bildet hier nicht die historische oder filmtheoretische Perspektive (3), sondern das close reading einer Werkanalyse, die sich eher als Zusatz zu der bereits bestehenden filmtheoretischen Literatur sieht. Interpretationsansätze werden neben einem Resumée aus den Analysen vor allem mit Zitaten aus Interviews und Schriften der Filmemacher erweitert. Dass diese Methode die Gefahr einer fehlenden Distanz zur Perspektive der Regisseure in sich birgt, ist Singer bewusst, wie er in seiner früheren Publikation betont. [1] Er versteht diese Quellen vorwiegend als Anhaltspunkte für einen Blick auf den Entstehungskontext der Filme.
Sein einleitendes, einzig übergreifendes Kapitel widmet sich der Erläuterung des Verhältnisses von Mythen und Philosophie und - da Singer das mythologische Erzählen, die Filmerfahrung mit dem Zustand des Träumens in Beziehung setzt - einem kurzen Exkurs zu Theorien der Mythenbildung in psychoanalytischen Schriften von Jung und Freud (4). Dabei deutet er sein philosophisches Konzept hier nur an, das für ihn als Philosophieprofessor nicht im akademischen, sondern im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen ist, als auf den Menschen bezogene, humanistische Perspektive und Weltsicht (TPF, 3). Der mythologischen Perspektive als Kunstform Priorität zollend, sieht er sie als eine der Philosophie zugrunde liegende Erkenntnis, die jedoch durch das analytische Argumentationsprinzip der Wissenschaft verborgen bleibt (2). In der Kunst verhält es sich laut Singer jedoch umgekehrt: "The fictive intent is evident and the philosophical substrata remain hidden within some intricate texture, often mythological [...] prior to an aesthetic analysis that brings them to the surface." (3)
In den drei folgenden Kapiteln werden nun jeweils ein oder zwei Filme im Vergleich analysiert. Oftmals bezieht Irving Singer die literarischen Vorlagen mit ein und vergleicht sie mit den filmischen Adaptionen. Zudem zieht er andere Filmbeispiele heran, denen ein ähnlicher Mythos zugrunde liegt. So konzentriert sich seine anschauliche und facettenreiche Detailanalyse im zweiten Kapitel auf den Mythos von Pygmalion und Galatea: Ausgehend von der Vorlage in Ovids Metamorphosen, untersucht Singer George Bernard Shaws freie Auslegung des Mythos in seinem Theaterstück "Pygmalion: A Romance in Five Acts" (1913) - die durch den Protagonisten veranlasste Verwandlung eines Blumenmädchens in eine Dame - sowie den sich unmittelbar auf seine Vorlage beziehenden Filmklassiker Pygmalion (1938) von Anthony Asquith / Leslie Howard. Er setzt diese in Beziehung zum Musical wie auch zu der Filmadaption My Fair Lady (1963) von George Cukor. So legt er in einer Feinanalyse der unterschiedlichen Versionen und ihrer jeweiligen Qualitäten und Schwächen konzise dar, inwiefern die Umsetzung des theatralen Stoffes und der von Singer als authentisch beschriebenen Mythenbildung des britischen Dramatikers in einer sämtliche Kameraeinstellungen und filmische Techniken ausschöpfenden Interpretation ihre Entsprechung findet (62f). Dabei arbeitet er die unterschiedlichen mythischen Qualitäten von Realem und Wahrem sowie von Sprache und Handlung heraus, wie sie in der theatralen und der filmischen Version zum Tragen kommen; bei letzterer mit Schnitt- und Einstellungsfolgen, beispielsweise der Abendballsequenz, der aufgrund kinematografischer Mittel mythische Qualität selbst inhärent ist (65).
Singer erläutert das zweifache Konzept von Leidenschaft ("passion") bei Shaw: Dieses beinhalte einerseits den Lebenswillen im Sinne Schopenhauers, der wie in der romantischen Mythologie einen neuen Frauentypus hervorgebracht habe. Dieser Frauentypus zeige sich auch in Filmen wie The Lady Eve (1941) und Hitchcocks Vertigo (1958). Andererseits enthält "passion" das Element idealer sexueller Liebe, dass Singer vergleichend auch an anderen Figuren aus Stücken von Shaw und Shakespeare aufzeigt (72ff.).
Die Kapitel 4 und 5 sind anders als die vorangegangenen konzipiert. Ersteres widmet sich dem filmischen Werk Jean Cocteaus und seiner "mythologisch-filmischen Poesie", letzteres einem Vergleich der Mythenbildung in den Filmen Stanley Kubricks und Federico Fellinis. Zunächst erläutert Singer prägnant Cocteaus mythologisches Konzept und seine filmische Poesie, die gänzlich unabhängig von der herkömmlich als poetisch angesehenen Sprache zu sehen sei, da sie unbewusst erzeugt werde, anders als im Freud'schen Unbewusstseinskonzept, in einem Zustand "[...] between slumber and daytime alertness needed for survival." (141)
Im weiteren Kapitelverlauf wird jedoch nicht deutlich, wie sich diese filmische Poesie im konkreten Beispiel manifestiert, obwohl viele eindrucksvolle Szenen von Cocteaus Filmschaffen weiterhin differenziert vorgestellt, verglichen und mit literarischen Vorbildern Ovids und Dantes in Beziehung gesetzt werden (Cocteaus Orpheus-Trilogie). Als ein Aspekt wird die Konzeption des Schwarzweiß am Beispiel von La Belle et la Bête (1946) vorgestellt (152). Dann wiederum konzentriert sich Singer auf das Magische, Clowneske und Cocteaus Realitätsbegriff, so dass der Poesie-Begriff in den Hintergrund gerät und letztlich am konkreten Beispiel keine Anwendung findet. Seine Schlussfolgerung zur Figur des Todes mutet etwas klischeehaft an, da sie nicht zu den sonst subtilen Analysen passen mag: "Death and slaughter being engrained in the animal condition, she [Belle, die Protagonistin] seeks merely to socialize and civilize what is beastlike in us all. That is a role wives have often performed in marriage." (165)
Das abschließende Kapitel zu den Mythen bei Kubrick und Fellini widmet sich zwar einer interessanten Gegenüberstellung der Filme 2001: A Space Odyssey (1965-68) und 8 ½ (Otto e mezzo, 1962), doch enthält diese nicht weiter erhellende Zitate und handelt die Filmbeispiele zu kurz ab. So bleibt auch unklar, wie Singers kritische Äußerung zu Kubricks "quasi-religiöser" Filmsprache mit seiner Mythenbildung zusammenhängt (200). Trotz dieser Kritikpunkte gelingt Irving Singer eine umfassende und im Detail sehr überzeugende Studie zu der bislang kaum für den Film erschlossenen Thematik der Mythenbildung auf hohem analytischen Niveau.
Anmerkung:
[1] Irving Singer: Three Philosophical Filmmakers: Hitchcock, Welles, Renoir, Cambridge/Mass. 2004, 4f.
Lilian Haberer