Stefan Paulus: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universitäten und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 81), München: Oldenbourg 2010, 617 S., ISBN 978-3-486-59642-7, EUR 84,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Marion Keller: Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018
Jeffrey A. Auerbach / Peter H. Hoffenberg (eds.): Britain, the Empire, and the World at the Great Exhibition of 1851, Aldershot: Ashgate 2008
Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München: Oldenbourg 2010
Ausgehend von der Beobachtung, dass Deutschland seine Position als führende Wissenschaftsnation seit Beginn des 20. Jahrhunderts eingebüßt und endgültig durch den Nationalsozialismus verloren hat, während die USA zur politischen und wissenschaftlich führenden Nation aufstiegen, fragt Stefan Paulus nach dem Ausmaß der Vorbildfunktion des US-amerikanischen Universitätssystems für dasjenige der Bundesrepublik. Die USA waren, so sein Ergebnis, seit 1950 der "dominierende Referenzpunkt" (540) für zentrale Fragen der Universitäts- und Wissenschaftsorganisation.
Der eigentliche Untersuchungszeitraum der aus einer Augsburger Dissertation hervorgegangen Studie umfasst die Jahre 1945 bis zum ersten Hochschulrahmengesetz 1976. In seinem ersten Kapitel holt Paulus noch sehr viel weiter aus, wenn er auf immerhin 60 Seiten die deutsch-amerikanischen Universitätsbeziehungen der hundert Jahre bis 1945 schildert. Sie waren anfangs geprägt von deutlicher Überlegenheit der deutschen Universität, die von amerikanischen Deutschlandreisenden zum Vorbild für Reformen in den USA genommen wurde. Vor dieser Folie der erfolgreichen Integration einzelner Elemente eines als überlegen erkannten Universitätssystems und des mindestens zu Teilen dadurch erreichten Aufstiegs der USA zur führenden Wissenschaftsnation und zum attraktivsten Studienland untersucht Paulus die umgekehrte, letztlich aber nicht erfolgreiche Orientierung Deutschlands an Amerika. Seinen Untersuchungszeitraum unterteilt er in zwei Abschnitte, die sich vor allem durch das Reformziel unterscheiden: Stand anfangs die Demokratisierung der Universität im Vordergrund, ging es seit Mitte der 1950er Jahre vor allem um Modernisierung und Erhöhung der wissenschaftlichen Reputation.
Für die Besatzungszeit folgt Paulus dem Urteil der bisherigen Forschung, die eine zu geringe Einflussnahme der Amerikaner auf das deutsche Universitätssystem in den ersten Nachkriegsjahren bedauert und hierin den Grund für die dann erfolgte "Restauration" der bis 1933 üblichen Strukturen sieht. Einem reformbedürftigen deutschen Universitätssystem werden amerikanische Erneuerungsangebote gegenübergestellt, so dass ablehnende Standpunkte der Rektoren als Verweigerungshaltung und Beharren auf deutscher Tradition erscheinen. Andere, zum Teil nicht mit dieser Dichotomie übereinstimmende Gegensätze etwa zwischen verschiedenen politischen und ideologischen Positionen werden hingegen kaum zur Erklärung herangezogen.
Für die 1950er Jahre zeichnet Paulus die Folge der Reformtagungen nach. Diese hatten allerdings nur beschränkte politische Wirkung, jedenfalls keine Entscheidungskompetenz und konnten lediglich Forderungen erheben und Denkschriften formulieren. Als "hochschulpolitisches Erbe" (169) der in diesen Punkten erfolgreichen amerikanischen Besatzung werden die Etablierung bzw. Retablierung von Politikwissenschaft und Amerikanistik sowie die Gründung der Freien Universität Berlin erörtert.
Die inhaltliche und kompositorische Mittelpunktfunktion räumt Paulus den Studien- und Forschungsaufenthalten von Studenten und Wissenschaftlern in den USA ein. Der Austausch "sensibilisierte für Defizite im eigenen Hochschulsystem" und habe wie eine "Klammer" (295) gewirkt zwischen den amerikanischen Umerziehungsbemühungen der Besatzungszeit und den während der Reformperiode der 1960er und 1970er Jahre wirksamen amerikanischen Einflüssen. Inzwischen traten wissenschaftsimmanente Motive und das Bemühen um Modernisierung in den Vordergrund, wurden der Verlust wissenschaftlicher Exzellenz und die sich aus der Überfüllung der Universitäten ergebenden Probleme beklagt. Ähnlich wie die amerikanischen Deutschlandbesucher des 19. Jahrhunderts hätten die Amerikareisenden im Reformprozess eine wichtige Rolle gespielt. Paulus betont den "Zusammenhang zwischen Auslandserfahrung und Reformbereitschaft" (443).
In vier Kapiteln zeichnet Paulus dann den Hochschulreformdiskurs der 1960er und 1970er Jahre nach und verfolgt die Diskussion über Kristallisationspunkte der Hochschulreform: Organisatorisch die Fragen, ob ein Rektor oder ein Präsident der Universität vorstehen solle, ob die Gliederung in Fakultäten oder Departments erfolgen solle und die Forderung nach der Einrichtung von Hochschulräten; zur Förderung der Wissenschaft die Einführung der Assistenz-Professur und des Forschungsfreisemesters.
Paulus zeigt auf, wie der Ruf nach Einführung des Präsidialsystems nach amerikanischem Muster binnen weniger Jahre "zum Synonym für Effizienz und Effektivität" avancierte (391), doch für die Frage, warum es nach seiner Einführung die erhoffte Wirkung nicht entfalten konnte, wäre eine Gegenüberstellung des deutschen und des amerikanischen Systems der Hochschulorganisation mit seinen Variationen und Veränderungen wünschenswert gewesen. Das gilt gleichermaßen für die Gegenüberstellung der Ordinarienverfassung und des Departmentsystems sowie für Hochschulräte: Weder das deutsche noch das US-amerikanische System werden genau beschrieben, so dass über die Fakten der Universitätsorganisation unter den jeweils doch sehr unterschiedlichen Bedingungen an amerikanischen Universitäten, über die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten von Präsidenten, Departments und Professoren, über ihre Pflichten, Rechte und finanzielle Ausstattung keine präzisen Fakten vorliegen, sondern - wie in der zeitgenössischen Debatte selbst - skizzenhafte Umrisse vorherrschen.
Noch in einem weiteren Punkt folgt Paulus implizit der zeitgenössischen Debatte: Die Defizite der deutschen Universitäten werden primär auf strukturelle und organisatorische Defizite zurückgeführt. Der ausgebliebene Erfolg der Reformanstrengungen liege in der lediglich partiellen Übertragung einzelner Elemente des amerikanischen Hochschulsystems begründet, diese hätten sich dabei dem deutschen System angepasst, statt es grundlegend zu verändern. Daraus ergibt sich für Paulus die Grundsatzfrage, "inwieweit punktuelle Reformen in Anlehnung an systemfremde Modelle überhaupt gewinnbringend eingesetzt werden können" (424). Für die USA des 19. Jahrhunderts hatte er allerdings genau diesen Weg als den erfolgreichen vorgestellt.
Ein weiterer wichtiger Hinderungsgrund, der den Erfolg der Reformen verhinderte, liege - auch hierin dem zeitgenössischen Diskurs folgend - in der Verweigerungshaltung vornehmlich der Professoren. So bekräftigt Paulus für die Universitätsneugründungen der 1960er Jahre, die sich das Modell der amerikanischen Campus-Universität zum Vorbild nahmen, den offensichtlichen Befund, dass dieses Vorhaben weder in Bochum, Konstanz Regensburg noch sonst gelang. Doch scheint es fraglich, ob man hierfür hauptsächlich "unterschiedliche Mentalitäten und Traditionen" (522) von Professoren und Studenten verantwortlich machen muss. Vielleicht hat es auch andere Gründe, wenn Bochumer Professoren lieber daheim arbeiten als im Arbeitszimmer an der Universität und dortige Studenten lieber in der Stadt leben als in den Wohnheimen auf dem Universitätsgelände.
Das schmälert nicht den Wert dieser Studie. Stefan Paulus hat eine imposante Studie vorgelegt, die detailreich die Vorbildrolle der USA im bundesrepublikanischen Hochschulreformdiskurs nachzeichnet und für weitere Forschung vielfältige Anknüpfungspunkte bietet.
Barbara Wolbring