Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016, 983 S., ISBN 978-3-406-68386-2, EUR 34,95
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Ist Metternich ein Postmoderner? Wolfram Siemann tituliert ihn so in seiner fast 1000-seitigen Biografie des österreichischen Staatskanzlers, den er dezidiert vom gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet. Er stellt sich dabei in eine Generationenfolge von Historikern, die jeweils von zentralen politischen Fragestellungen ihrer Gegenwart ausgehend auf Metternich blickten: Nach den sich in Verehrer und politische Gegner spaltenden Mitlebenden als zweite Generation diejenigen, die um eine kleindeutsche oder großdeutsche Nationalstaatsgründung rangen und im Bann von Treitschkes "Deutscher Geschichte" standen. Dann die von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs Geprägten. Zu ihnen zählt Siemann Heinrich von Srbik, dessen 1925 erschienene Biografie trotz fundierter Quellenforschung problematisch geworden ist aufgrund ihrer ideologischen Grundierung durch einen biologistischen Rassismus, Herrenmenschentum und Führermythos. Die Urteile Srbiks werden trotzdem bis heute vielfach weitergetragen, sogar dann, wenn sie von der Forschung widerlegt sind (22). Die Studien der vierten Historikergeneration hoben unter dem Eindruck von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und der atomaren Bedrohung des Ost-West Konflikts den europäischen Blick Metternichs und seine Ausgleichspolitik im Dienste einer tragfähigen Friedensordnung hervor. Nach dieser Bestandsaufnahme wird das doppelte Vorhaben Siemanns deutlich: Er will die Biografie Srbiks endgültig ersetzen durch eine neue, auf profunder Quellenkenntnis auch bisher vernachlässigten Materials beruhende Studie. Sie soll zudem den Standpunkt unserer Gegenwart einnehmen, als deren gemeinsame Erfahrung und damit als den Fluchtpunkt gegenwärtiger Geschichtsbetrachtung Siemann die Wende von 1989/90 bezeichnet (30).
Gelehrsamkeit und Quellenkenntnis des Autors stehen außer Frage. Aufgrund der Fülle des durchgearbeiteten Materials, dazu des Erschließens von Quellenbeständen, die Srbik nicht zur Verfügung standen oder die er nicht verwendet hat, wird Siemanns Metternich-Biografie für absehbare Zeit das maßgebliche Referenzwerk sein. Wie steht es aber um das Vorhaben des Autors, eine Biografie vom Standpunkt unserer Gegenwart aus zu schreiben? Siemann sucht in Metternichs politischen Vorstellungen und seinem Handeln Anknüpfungspunkte für heute, sogar "Elemente der Identifikation" (864). Er entwirft eine Alternative zum vorherrschenden Metternich-Bild, das ihn als finassierenden Taktiker und reaktionären Modernitätsverhinderer zeigt, als Gegner von Liberalismus und Demokratie, Unterdrücker von Meinungsfreiheit und Konservierer oder Restaurator der Herrschaftsprinzipien des Ancien Régime.
Siemann hingegen taucht ganz in Metternichs Wahrnehmung ein in seiner Beschreibung der wahrgenommenen Bedrohung durch die deutsche Nationalbewegung und deren "Radikalisierung" (662). Eine Parallele zum gegenwärtigen islamistischen Terrorismus scheint auf, etwa in der Darstellung des Kotzebue-Attentäters Carl Ludwig Sand, von dessen zunehmender nationaler Radikalisierung, einer religiösen Rechtfertigung des politischen Mords und einer gezielten Propaganda. Metternich habe gegen eine als akut betrachtete Revolutionsbedrohung mit den Karlsbader Beschlüssen die innere Sicherheit bewahren wollen. Er erscheint damit als Visionär und strategisch operierender Konstrukteur einer europäischen Friedensordnung und eines "inneren Friedens" (700). Metternich habe das Gewaltpotential im Traditionsbruch der Französischen Revolution und im Nationalitätenprinzip erkannt und den Sprengsatz, der eine multinationale Ordnung wie das Habsburgerreich bedrohte.
Einen wichtigen Anknüpfungspunkt für unsere Gegenwart identifiziert Siemann folglich in der Skepsis gegenüber dem Nationsprinzip, das als willkürliches Konstrukt und als Mittel zur Legitimierung von Kriegen erscheint. Aufgrund dieses Gefahrenpotentials plädiert Siemann für die Überwindung des Nationalstaats. Damit steht er nicht allein. Viele (nicht nur) Historiker vertraten in der alten Bundesrepublik und bis heute diesen Standpunkt.
Das Nationsprinzip, das Metternich bekämpfte, war jedoch nicht dasjenige Treitschkes, sondern das der Französischen Revolution, das Herrschaft an die Zustimmung der Beherrschten band, das mit Parlamentarismus und Grundrechten verknüpft war. Dieses nicht willkürliche, aber voluntaristische Nationsprinzip brach mit einer Herrschaftslegitimierung durch Tradition und Dynastie, letztlich - obwohl schon Napoleon dem zuwider gehandelt hat - auch durch Eroberung und Gewalt. Mit diesem Nationsbegriff lässt sich die Wende von 1989/90 als Rückkehr der Nationen zu dem ursprünglichen Prinzip lesen: Nationale Souveränität ist verbunden mit Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft, die sich als solche versteht. Die Frage steht im Raum, ob die Menschen in den verschiedenen Teilen des europäischen Kontinents ihre bisherigen Nationalstaaten in einem solchen vielsprachigen und aus sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen zusammengefügten Nationalstaat einbringen wollen. Derzeit sieht es eher nicht so aus, als liefe die Entwicklung eindeutig in diese Richtung.
Die Studie lässt sich auch lesen als Versuch einer Aufwertung des 1773 geborenen Metternich gegenüber dem vier Jahre jüngeren Napoleon, der bis heute das Bild der Epoche dominiert. Der zuletzt auch persönlichen Konfrontation der beiden misst Siemann eine zentrale Bedeutung bei. Beide waren aufgewachsen im vorrevolutionären Europa. Napoleon inszenierte sich als Retter und Vollender der Revolution, deren Prinzipien er Europa aufzwang. Ihm gegenüber kämpfte Metternich für die Kontinuität von Tradition und dynastischer Legitimität. Siemann belegt die Bedeutung dieser Konfrontation auch durch den Umfang, den sie in den Memoiren Metternichs hat. Dort nimmt die Zeit von seinem Amtsantritt als Botschafter in Paris 1806 bis zur endgültigen Niederlage Napoleons 1815 zwei Drittel des Raumes ein. Davon die Hälfte fällt allein auf die beiden Jahre 1813/14, in denen der persönliche Kampf zwischen Metternich und Napoleon kulminierte. Dennoch verwundert es, wenn diese Jahre als Metternichs wichtigster "Erinnerungsort" (239) bezeichnet werden, denn dieser Begriff ist von Pierre Nora geprägt für Kristallisationspunkte des sozialen Gedächtnisses, nicht persönlicher Erinnerung.
Metternich war zunächst der Sieger in diesem Kampf. Dass der Wiener Kongress eine mehr als 20-jährige Kriegszeit beendete und eine lange tragfähige Friedensordnung etablierte, hat die Forschung in jüngster Zeit verstärkt hervorgehoben. Metternich als wichtiger Architekt dieser Friedensordnung ist gleichwohl vor allem mit den Begriffen Restauration und Reaktion verbunden. Siemann vermeidet diese Begriffe. Er spricht stattdessen von "Rekonstruktion" (11) oder noch stärker zukunftsgerichtet von "Konstruktion und Neubeginn" (607). Ein Neubeginn, der auf Gleichgewicht und Interessenausgleich setzte statt auf den Nationalstaat, der das Nationsprinzip wie im Deutschen Bund ins Innere verlagerte. Ob hier tatsächlich ein Anknüpfungspunkt für unsere Gegenwart liegt, ob die Nation wirklich der zu überwindende Grund des Übels ist, oder ob die Zeit nicht auch über diese Position bereits hinweggegangen ist, wir die Zukunft erweisen.
Barbara Wolbring