Franziska Hirschmann: Formen adliger Existenz im 18. Jahrhundert. Adel zwischen Kritik und Reformen, München: Martin Meidenbauer 2009, 146 S., ISBN 978-3-89975-914-3, EUR 34,90
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Wer sich mit den Schriften des Adolph Freiherrn Knigge und ihrer Rezeption auseinandersetzt, braucht starke Nerven. Bereits kurz nach dem Tod des Aufklärers wurde sein Hauptwerk "Über den Umgang mit Menschen" mit massiven Veränderungen am Text herausgegeben, später avancierte es dann zu einer Bibel für gutes Benehmen. Für Franziska Hirschmanns Studie über Adel und Reformen im 18. Jahrhundert fungiert Knigge nun als "Stein des Anstoßes". Ziel ihrer Untersuchung ist nämlich, die kritischen Äußerungen des Aufklärers über seine adligen Standesgenossen mit der historischen "Realität" zu vergleichen und zu zeigen, dass es innerhalb des Adels doch Männer gab, die, anders als von Knigge behauptet, "für Staat und Gesellschaft nützlichen Tätigkeiten" nachgingen (4). Anhand von Lebensläufen verschiedener Adliger, die an der Umsetzung von Reformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beteiligt waren, sollen Knigges Thesen auf ihre Richtigkeit hin überprüft und sein "adelskritisches Pauschalurteil" relativiert werden (13).
Die Widerlegung von Knigges Adelskritik wird auf rund 120 Seiten, in zwölf Kapiteln, 50 Unterkapiteln und 751 Fußnoten betrieben. Im ersten Kapitel werden Leben und Werk Knigges vorgestellt und seine Adelskritik anhand längerer Zitate nachvollzogen. Die Kritik Knigges an seinen Standesgenossen richtete sich gegen Einfalt, Dummheit, Mangel an Bildung, Faulheit und unehrenhaftes Verhalten, vor allem aber dagegen, dass Vertreter des Adels "keine Fähigkeiten haben oder erwerben, die der Gesellschaft in irgendeiner Weise Nutzen bringen könnten" (12). Einen "totalen Verriss seiner Standesgenossen" sieht die Autorin in Knigges "Schwarzweißmalerei" und nimmt sich vor, das "Pauschalurteil" des Aufklärers in den folgenden Kapiteln an der "Realität" zu messen, wie sie sich in den Lebensläufen einiger Adliger widerspiegele (13). Das zweite Kapitel bietet einen Überblick über "Aufklärung und Reformen als zentrale Strömungen des 18. Jahrhunderts", wobei sich die Autorin vor allem an den Überlegungen von Horst Möller und Barbara Stollberg-Rilinger orientiert. [1]
Im dritten Kapitel erläutert Hirschmann ihre methodische Vorgehensweise. Da es das Ziel der Untersuchung ist, Knigges adelskritische Thesen mit Hilfe von Gegenbeispielen zu entkräften, müssen Adlige gefunden werden, die sich im Rahmen der Reformbestrebungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts engagierten. Hierfür wird zunächst ein Raster festgelegt: Die in Frage kommenden Adligen sollten zwischen 1688 und den 1770er Jahren geboren sein, altadliger Herkunft sein und dem niederen Adel angehören. Eine erste Suche in ADB und NDB ergibt 4.738 Treffer, die mittels verschiedener Methoden auf 30 Fälle reduziert werden. Weitere Recherchen in anderen Nachschlagewerken fördern weitere Namen zu Tage, so dass am Ende eine Gruppe von 83 Adligen zusammengestellt werden kann. Aus diesen wählt die Autorin dann die Beispiele aus, mit deren Hilfe Knigges Adelskritik widerlegt werden soll. Das gemeinsame Kriterium bei der Auswahl ist, dass der jeweilige Adlige "in Bewusstsein seines Standes und aus Pflichtbewusstsein sich reformerisch betätigte, und dass er das Bewusstsein dieser Verpflichtung lebte" (26). Anschließend werden die Adligen nach ihren Tätigkeitsfeldern sortiert, wobei sich die strikte Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe in manchen Fällen als knifflig erweist, da einige in mehr als nur einem Bereich reformerisch tätig waren.
Bevor die adligen Reformer einer näheren Betrachtung unterzogen werden können, wird im vierten Kapitel zunächst noch die "berechtigte" Adelskritik vorgestellt. Diese finde sich unter anderem bei Joseph Sonnenfels, Johann Heinrich Gottlob Justi und Johann Michael von Loen. Im Gegensatz zu Knigge, der "nur den Adel kritisiert, aber kein Bild entwirft, wie der Adel seiner Meinung nach sein sollte" (29), hatten diese drei Autoren konkrete Vorstellungen: Sie forderten die Beteiligung des Adels an der Volkswirtschaft, eine Einschränkung der adligen Privilegien und die Abschaffung des Erbadels. Die Kapitel fünf bis elf können dann unter dem Obertitel "Adel und Reformen" zusammengefasst werden. Hier geht es zunächst um adlige Reformer, "die das Ganze im Blick haben" (38), d.h. um dem Adelsstand entstammende Minister wie z.B. Franz von Fürstenberg. Daran anschließend werden Adlige in den Blick genommen, die in unterschiedlichen Bereichen reformerisch tätig waren: im Justizwesen und bei der Gesetzgebung, in Bergbau und Ökonomie, im Forstwesen, bei Agrar- und Sozialreformen sowie Universitäts- und Schulreformen; und auch den geistlichen Fürsten und den Reformen in den katholischen Territorien ist ein Kapitel gewidmet. 16 Adlige werden in je einem eigenen Unterkapitel behandelt, darunter Friedrich Ludwig von Berlepsch, Friedrich Anton von Heynitz, Gerlach Adolph von Münchhausen oder Heinrich von Bibra.
Das zwölfte und letzte Kapitel bietet schließlich einen Ausblick ins 19. Jahrhundert und behandelt die preußischen Reformminister Hardenberg und Stein sowie Alexander von Humboldt, der als "Exponent des Übergangs von Spätaufklärung in den Historismus" (115) gesehen werden müsse. So bilde Alexander von Humboldt den Endpunkt einer Entwicklung, die der niedere Adel durchlaufen habe, da er, "der als freier Forscher alle ständischen Grenzen sprengte", einen "völlig neuen Typ von Adel" repräsentiere (120). Am Ende steht fest, dass sich viele Vertreter des niederen Adels aktiv an der Umsetzung von Reformen beteiligten und dadurch einen Beitrag zur Verbesserung von Staat und Gesellschaft leisteten, Knigges Kritik am Adel also zumindest in ihrer Pauschalität fragwürdig erscheint.
Obwohl eine engagierte Studie mit klaren Thesen grundsätzlich zu begrüßen ist, die Autorin auch keine Mühe gescheut und, wie das Literaturverzeichnis zeigt, fleißig gelesen hat, bleibt das Ergebnis doch in großen Teilen unbefriedigend. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sich einer einzelnen Person zu widmen und die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen des Adels anhand eines ausgewählten Standesgenossen zu untersuchen. Hierfür hätte sich ein bestimmter Adliger ganz besonders angeboten. Er war nicht dumm, sondern umfassend gebildet und Verfasser zahlreicher Schriften (darunter über 1.000 Rezensionen). Er war nicht faul, denn er bemühte sich zeitlebens um eine feste Anstellung. Er war ein echter Aufklärer und Übersetzer Rousseaus. Er war frei von Standesdünkel, denn nach der Abschaffung des Erbadels in Frankreich benutzte er das "von" vor seinem Namen nicht mehr, anders als die bürgerlichen Autoren Justi und Sonnenfels, die sich trotz ihrer vehementen Adelskritik selbst gerne das Adelsprädikat verliehen. Er wäre der perfekte Kandidat für das Buch von Franziska Hirschmann gewesen. Sein Name: Adolph Freiherr Knigge.
Anmerkung:
[1] Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974; Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000.
Christiane Coester