Angela Matyssek: Kunstgeschichte als fotografische Praxis. Richard Hamann und Foto Marburg (= humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte; VII), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2009, 318 S., ISBN 978-3-7861-2584-6, EUR 49,00
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Ein junger Fotograf und ein Gehilfe, der die Kamera einrichtet, beide auf jeweils einer hohen Leiter in einer mittelalterlichen Kathedrale. Der Bildunterschrift lässt sich entnehmen, dass es sich bei den beiden um Marburger Studenten handelt, die beim Aufnehmen der Hochschiffskapitelle von Vézelay fotografiert wurden. Hier das neue Medium Fotografie, die apparative Aufnahme, der technische Fortschritt. Dort die alte Kirche, steinerne Säulen, Bögen, Friese, Kapitelle - all das fotografisch wiedergegeben in plastischer Modellierung von bemerkenswerter Qualität, in feinsten Abstufungen von Grau. Das Bild, mit dem Angela Matyssek ihre Studie beginnt, beschreibt in nuce den Inhalt ihres Buches. Es geht um die Gründungs- und Erfolgsgeschichte des Marburger Bildarchivs und es geht um die Fotografie als Instrument wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie formten Kunsthistoriker das neue Medium Fotografie zum zentralen Arbeitsinstrument ihres Faches? Welche Folgen hatte die Arbeit mit Fotografien für ihre Forschungstätigkeit? Der Kunsthistoriker Richard Hamann (1879-1961) hat Foto Marburg 1913 gegründet. Doch das Buch ist mehr als eine Biografie über Hamann und es ist auch mehr als eine Monografie über das prominenteste Bildarchiv der deutschen Kunstgeschichte. Es ist vor allem eine hochsignifikante Studie über eine Methodik des Faches, weil diese Methodik auf der Einsicht beruht, dass Bilder an der Konstitution von Wissen maßgeblich beteiligt sind.
Der behandelte Zeitraum reicht von 1860 bis 1930. Im Mittelpunkt steht dabei die Gründungs- und Etablierungsphase des Marburger Bildarchivs zwischen 1913 und 1930. Parallel zum Aufbau des Archivs hat Richard Hamann die Gründung eines Seminars mit eigener Fotoabteilung, einer Forschungsstelle und eines Verlages als weiterer Aktionsbereiche vorangetrieben, doch der Archivgedanke blieb zentral. Es galt, Objekte durch das Medium Fotografie aus ihrer Ortsgebundenheit zu lösen und Studierenden sowie einem weitesten Kreis von Interessenten zur Verfügung zu stellen. Diesen quasi-demokratischen Anspruch hatte erstmals 1865 Herman Grimm in der Utopie einer "fotografischen Bibliothek" anklingen lassen. Heinrich Wölfflin, bei dem Hamann 1911 habilitierte, formulierte bereits Richtlinien für das Fotografieren wissenschaftlicher Objekte. Aber erst Richard Hamann und seine Mitarbeiter verwirklichten diese Utopie. Sie fotografierten nicht nur selber, sondern betrieben diese Praxis erstmals planmäßig und in großem Stil. Ziel war es, dass "systematisch bestimmte Gebiete eines Landes durchfotografiert wurden" (54). Der Schwerpunkt der Marburger Fotografie lag (und liegt) dabei auf Architekturfotografie (Bauwerken, Bauschmuck wie Skulpturen, Kapitellen, Türen, Säulen etc.). Die Objekte wurden dabei systematisch in ihre einzelnen Teile zergliedert, was einer stil- und motivgeschichtlich verfahrenden Kunstgeschichte entgegenkam. So existierten von der südfranzösischen Benediktinerabtei St. Gilles bis dahin 20 bis 30 Aufnahmen. Hamann und seine Mitarbeiter machten 1927 von der Kirche 450 Aufnahmen. Zusätzlich wurden Bildbestände anderer Archive angekauft. Es galt, ausländische Wettbewerber wie Alinari in Florenz und die Société des Nations in Paris zu überflügeln. Die beiden Weltkriege und die politischen Systemwechsel 1933 und 1945 blieben ohne größeren Einfluss auf Hamanns fotografische Tätigkeit oder beförderten diese sogar: So konnten etwa in Frankreich während der Besatzungszeit zwischen 1940 und 1942 Bauwerke fotografiert werden, für die man sonst keine Aufnahmegenehmigung erhalten hätte, wie die Autorin in einem Exkurs ausführt.
Die wissenschaftliche Qualität der Marburger Fotografie beruht auf Auseinandersetzung mit fachintern geführten Mediendebatten, aus der heraus sich allmählich Standards wissenschaftlicher Bildproduktion gebildet haben, wie Matyssek weiter zeigt. Die Fotografie wird von der Autorin dabei sowohl als Fortsetzung einer Tradition wissenschaftlicher Bildproduktion (Handzeichnung, Druckgrafik) als auch als diskursiver Einschnitt gesehen. Man sprach der Fotografie als apparativ erzeugtem Bild die Bedeutung eines selbstevidenten Beweises zu. "Fotografien wurden vielfach als Aufzeichnungen und Spuren der dargestellten Objekte begriffen." (9) Die Fotografie als Abdruck und Spur ermöglichte eine Realisierung des wissenschaftlichen Ideals der "Objektivität". Eine Gegenposition bezogen die Vertreter einer Ästhetik der Einfühlung, die sich unter dem Einfluss Wilhelm Diltheys und Friedrich Theodor Vischers seit den 1860er-Jahren parallel zu den nüchternen Inventarisierungsarbeiten etablierte. Die dem Werk "eingehauchte Seelenstimmung" könne die Fotografie nicht wiedergeben. Ansätze zu einer Theorie der Einfühlung etwa von Dilthey und Wilhelm Worringer waren Hamann allerdings nicht objektiv genug, er beanstandete "mangelnde Präzision" und "intuitiv-spekulative Vorgehensweise" (160). Eine andere, performative Strategie der Vergegenwärtigung des abwesenden Werks verfolgte unter anderem der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin in seinen berühmten Diavorträgen ab den 1890er-Jahren. Wie aber war die Lücke des abwesenden Werks im Medium der Fotografie zu füllen?
Matyssek behandelt auch die an diese Fragestellung anknüpfenden Versuche der Marburger, den Fotos Leben einzuhauchen, ohne den Anspruch auf Objektivität aufzugeben. Ziel blieb, wie es mit Bezug auf den Marburger Fotografen Arthur Schlegel heißt, die Objekte so "rein wie möglich zum Sprechen [zu] bringen" (166). Die Lösung des Problems, dass die Präsenz des Gegenstandes in der technischen Aufnahme zu verschwinden droht, sahen sie im pragmatischen Kriterium der "Kennerschaft". Hamann hat dabei immer wieder die dienende Rolle der Fotografie betont, sie war für ihn vor allem Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis. Es galt, jegliche Betonung des Bildes in seiner Eigengesetzlichkeit zu vermeiden. Eine stärker an der Medialität des Bildes interessierte Kunstgeschichte mag da aufhorchen, vor allem, wenn Matyssek im letzten der fünf Kapitel die Marburger Fotografie im Hinblick auf ihre "Bildlichkeit" untersucht. Gerade dieses Kapitel ist aber besonders spannend, weil klar wird, dass es den Marburgern vor allem um ein pragmatisches Bildverständnis geht, das aktive Bildgestaltung impliziert. So wird in detaillierten vergleichenden Analysen unter anderem aufgezeigt, wie ausgewogen und differenziert Hamann mit Licht Plastizität modellierte, um den jeweiligen Gegenstand in ein Objekt des Wissens zu verwandeln. Abgrenzungsversuche der Marburger gegen "künstlerische Fotografie" belegen nicht Bilderskepsis, wie die Autorin überzeugend deutlich macht, sondern den wissenschaftlichen Anspruch, der ein anderer ist als jener der Kunst.
Auch wenn man berücksichtigt, dass unter Kunsthistorikern im frühen 20. Jahrhundert die Praxis des Fotografierens bereits weit verbreitet war und es schon ein Wissen um die Bildargumentation gab: Angela Matysseks Studie macht auf anschauliche Weise deutlich, dass von niemandem diese Praxis so nachhaltig betrieben und das Medium Fotografie derart ins Zentrum des Faches gerückt wurde wie von Richard Hamann. In dieser wissenschaftsgeschichtlichen Zuspitzung geht das Buch über eine bloße Biografie hinaus, wie sie aktuell von dem Germanisten Jost Hermand vorliegt. [1] Hinzu kommt, dass mit der Problematisierung der fachinternen Diskussionen um Standards wissenschaftlicher Bildproduktion nicht nur der Status der Fotografie in der Kunstgeschichte, sondern auch bis heute geführte medientheoretische Debatten thematisiert werden, was der Studie zusätzliche Aktualität verleiht.
Anmerkung:
[1] Jost Hermand: Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Biographie (1879-1961), Köln / Weimar / Wien 2009.
Jennifer Bleek