Etienne François / Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2010, 455 S., ISBN 978-3-406-57752-9, EUR 29,95
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Seit den 1990er Jahren hat in der deutschen Geschichte Erinnerung Hochkonjunktur. Trotz des hochentwickelten Standes der Literatur vermag es der vorliegende Band, eine wichtige Wissenslücke zu füllen. Während das Feld der 'Gedenktage' schon eingehend erschlossen ist, bietet der Begriff 'Erinnerungstage' Einsichten in die Vielschichtigkeit von Erinnerungskulturen abseits obrigkeitlicher Steuerung. Die Herausgeber werfen daher die Leitfrage auf, wie Gesellschaften geschichtliche Ereignisse zu erinnerungswürdigen 'Denkmälern in der Zeit' (Aleida Assmann) umformen. Wie der Titel schon andeutet, bildet Erinnerungstage ein natürliches Pendant zu den Deutschen Erinnerungsorten, an deren Veröffentlichung Etienne François und Uwe Puschner (beide FU Berlin) als Mitherausgeber bzw. Autor maßgeblich beteiligt waren. Daher lassen sich auch thematische Überschneidungen erkennen, wie beispielsweise in der Betonung transnationaler Verknüpfungen von nationaler Erinnerung, auf die unten noch weiter einzugehen sein wird. Jedoch hebt sich der vorliegende Band in einem wichtigen Punkt ab. Die Mängel einer uneinheitlichen Schwerpunktsetzung in der Themenauswahl, welche bei empirisch nachweisbarem Geschichtsbewusstsein ansetzt, aber einem oft normativ begründeten bildungsbürgerlichen Kanon den Vorzug gibt, ergeben sich hier nicht. [1] Die Erinnerungstage sind allgemein bekannt und werden in Bezug auf ihre empirische Rezeptionsgeschichte vorzüglich behandelt.
Für die Beiträge haben die Herausgeber eine Gruppe von international ausgewiesenen Experten der Antike bis zur Zeitgeschichte gewinnen können. Der Titel des Buches ist insofern etwas irreführend, als das Augenmerk hauptsächlich auf der Neuzeit und der deutschen Geschichte 'im weitesten Sinne' liegt, wie François und Puschner in der Einleitung erklären (17). Sie begründen diese Eingrenzung legitimerweise damit, dass die Selektion der Autoren und Themen die Forschungsfelder Hagen Schulzes reflektieren, dem der Band gewidmet ist. Die meisten der ausgewählten Erinnerungstage sind ganz konventionell militärischer oder politischer Natur, obwohl wirtschafts-, kultur- und religionsgeschichtliche Momente Berücksichtigung finden.
An dieser Stelle kann nicht auf alle 22 Beiträge einzeln eingegangen werden, weshalb sich die Rezension darauf beschränken wird, einige Stärken und Schwächen des Sammelbandes hervorzuheben. Mit großem Feingefühl gelingt es den Autoren, der Eigendynamik von Gedenken nachzuspüren und somit selbst gut erforschten Erinnerungstagen neue Seiten abzugewinnen. Den roten Faden ihrer Untersuchungen stellen 'geteilte Erinnerungen' dar, die symptomatisch sind für die divergierende Verarbeitung geschichtlicher Ereignisse im Langzeitgedächtnis unterschiedlicher konfessioneller, politischer und nationaler Lager wie der Beginn der Reformation (31. Oktober 1517) oder der Anfang des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939). Mitunter hat der Verwandlungsprozess von 'geschichtlichen' zu 'erinnerungswürdigen' Ereignissen die Wahrnehmung des ursprünglichen Ereignisses derart verändert, dass die historische Realität darin fast verloren gegangen ist. Wie Heinz Schilling (Humboldt Universität Berlin) eindrucksvoll belegt, hat die vielseitige Vereinnahmung Martin Luthers das frühneuzeitliche Selbstverständnis des Kirchenreformers und seinen Beitrag zur Verankerung der religiösen Emphase in der weltlich-gesellschaftlichen Ordnung des 16. Jahrhunderts in den Hintergrund treten lassen. Ebenso macht Bernd Sösemann (FU Berlin) anschaulich, wie die Inszenierung des 30. Januar als Tag der 'Machtergreifung' durch die nationalsozialistische Propaganda das Geschichtsbild nachhaltig verändert hat.
Die Aufmerksamkeit, die den transnationalen Verflechtungen von Erinnerungstagen und der daraus resultierenden 'Mythomotorik' (Jan Assmann) gewidmet ist, stellt einen besonderen Vorzug des Sammelbandes dar. Dies lässt sich sehr gut beobachten an Jakob Vogels (Universität Köln) Gegenüberstellung des deutschen Sedantags und lokaler Heldenverehrung in Frankreich nach dem Feldzug von 1870/71 sowie Christiana Brenneckes Untersuchung des Gedenkens an die Bombardierung von Guernica (26. April 1937) in Spanien und Deutschland. Die Beiträge zeigen überzeugend, dass Erinnerungstage nur relational verstanden werden können und in ein Gewebe von Erinnerungssträngen eingebunden sind. Alexander Demandt (FU Berlin) beweist jedoch ungewollt in seinem Aufsatz über den Sieg Constantins des Großen an der Milvischen Brücke (28. Oktober 312), wie bestehende Erinnerungskulturen die historische Bedeutung einzelner Tage weiterhin verzerren. Demandt argumentiert, dass des Kaisers Bekenntnis zum Christentum vor der Schlacht den Grundstein für das christliche Europa gelegt habe. Zugleich konzediert er, dass die Ausbreitung des neuen Glaubens auch ohne Constantin geschehen wäre, "nur nicht so schnell" (47). Bei der Erhebung Constantins zum Vater der "beispiellosen kulturellen und sozialen Glanzleistungen des Christentums" (54) stellt sich die Frage, ob die Schlacht an der Milvischen Brücke nicht ebenso wie die Person Luthers oder die nationalsozialistische 'Machtergreifung' ein Opfer nachträglicher Mythisierung geworden ist, welche die Sicht auf alternative Deutungsmuster versperrt. Wäre das Christentum 312 nicht so schnell zum Sieg gelangt - um Demandts kontrafaktischen Gedankenansatz fortzuführen - hätten die Kreuzzüge und innereuropäischen Religionskriege späterer Jahrhunderte vielleicht nie stattgefunden.
Betrachtet man nun abschließend den Gesamteindruck des Sammelbandes, so macht sich die harmonische Themenauswahl positiv bemerkbar. Dies trifft besonders zu auf die frühneuzeitlichen und napoleonischen Erinnerungstage, welche die Verquickung von Religion und Politik bzw. der Verselbstständigung 'geteilter Erinnerungen' im Zeitalter des Nationalismus anschaulich darstellen. Aufgrund der einschneidenden kriegerischen und politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ist es daher auch konsequent, dass sich fast die Hälfte aller Beiträge mit der Verdichtung und Überlagerung von Erinnerung in den letzten hundert Jahren auseinandersetzt. Genannt sei hier besonders der Aufsatz von Gilbert Merlio (Paris-Sorbonne) zu den 9. Novembern der deutschen Geschichte (Ausrufung der Republik 1918, Hitlerputsch 1923, Reichskristallnacht 1938 und der Fall der Mauer 1989). Nichtsdestotrotz bedarf es einiger kritischer Anmerkungen. Die Autoren nehmen wenig Bezug aufeinander, weshalb es an manchen Stellen zu Überschneidungen kommt. Beispielsweise befassen sich zwei von ihnen mit dem 9. November, ohne dadurch notwendigerweise einen heuristischen Mehrgewinn zu erzielen. Hingegen finden andere historische Eckdaten wie die Begründung des preußischen Königtums bzw. des Kaiserreichs am 18. Januar 1701/1871 sowie der Arbeiteraufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 keine Berücksichtigung. Auch wäre es wünschenswert gewesen, mehr im Text über die Kunstwerke zu erfahren, die dem Buch begleitend in Abbildungsform beigegeben sind.
Nichtsdestoweniger leistet der Sammelband insgesamt einen interessanten und unterhaltsamen Beitrag zur Gedächtnisforschung, der sowohl Fachleute wie auch eine interessierte Öffentlichkeit anspricht. Dem Anspruch, innovative Anregungen zum Umgang mit der Vergangenheit zu bieten, um somit mehr Licht in das komplexe Verhältnis zwischen Geschichte und Gedächtnis zu bringen, werden die Herausgeber gerecht.
Anmerkung:
[1] Jan-Holger Kirsch über Etienne François und Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, in: H-Soz-u-Kult 18.06.2001; URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=572.
Jasper Heinzen