Rezension über:

Elizabeth Kolsky: Colonial Justice in British India. White Violence and the Rule of Law (= Cambridge Studies in Indian History and Society; 17), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XI + 252 S., ISBN 978-0-521-11686-2, USD 95,00
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Rezension von:
Verena Steller
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Verena Steller: Rezension von: Elizabeth Kolsky: Colonial Justice in British India. White Violence and the Rule of Law, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/18116.html


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Elizabeth Kolsky: Colonial Justice in British India

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In ihrer materialreichen Studie weist Elizabeth Kolsky weiße Gewalt als intrinsischen Zug britischer imperialer Herrschaft in Indien und als "third face of colonialism" (5) aus. Die Brutalität der kolonialen Praxis stand indes in krassem Gegensatz zum theoretischen Versprechen der Rule of law von Recht und Gerechtigkeit, die als Garant von Gleichheit und Freiheit und als Säule der britischen Zivilisierungsmission galt. Kolsky zeigt das Paradoxon alltäglicher weißer Gewalt und der Rule of law vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf: Während im späten 18. Jahrhundert weiße Delinquenten noch straflos davongekommen waren, weil das Recht kaum Macht und Institutionen der Durchsetzung besaß, dienten mit der Ausdehnung des Kolonialrechts gerade das Rechts- und Gerichtssystem dazu, die Straflosigkeit von Weißen zu begünstigen. Als Quelle von Recht- und Ordnungslosigkeit macht Kolsky Briten selbst aus - jene Weißen vornehmlich, die weder zu den Angestellten der East India Company (EIC) noch zu den Native Indians gehörten. Weiße Gewalt vor allem gegen die indigene Bevölkerung wird als strukturelles Problem britischer Herrschaft herausgearbeitet und der Blick auf jene "in-between-character(s)" gerichtet, die entgegen der üblichen Perspektive nicht als Vermittler im colonial encounter, sondern als deren systematische Störer auf den Plan treten: Siedler, Seeleute, Soldaten, Dienstpersonal, Arbeiter, Pflanzer etc. In weißer Gewalt und der Straflosigkeit weißer Täter, die durch die anglo-indische Kodifizierungen nicht vermindert, sondern erst ermöglicht und institutionalisiert wurden, sieht Kolsky den eigentlichen "scandal of Empire": Das koloniale Archiv quelle über von solchen Fällen weißer Gewalt, die die zeitgenössische Presse und Öffentlichkeit intensiv beschäftigte - nach Ansicht der Autorin von der Forschung "widely acknowledged but narrowly explored" (1) - und nun als Leitmotiv die fünf Kapitel des Bandes durchzieht.

Dass weiße Gewalt bereits in der Frühphase britischer Kolonialherrschaft in Indien ein ernsthaftes Law-and-order-Problem von erheblicher Tragweite darstellte, das dazu geeignet war, sowohl die Ideologie der moralischen und kulturellen Überlegenheit der Briten als auch das lokale Vertrauen in britische Herrschaft zu unterminieren, belegt empirisch auf beeindruckende Weise ein offizieller Bericht über aufgrund von Fehlverhalten ausgewiesene Europäer ab 1776, den das Board of Control der EIC anforderte. Dieser Bericht mit dem Titel "European Misconduct in India, 1776-1824" umfasst nicht weniger als 25 Bände mit 25 000 handgeschriebenen Seiten, die den Kern des ersten Kapitels ausmachen. Zusammen mit dem Quellenmaterial der High Courts in den Provinzhauptstädten und der niederen Gerichtsbarkeit aus den ländlichen Gebieten, die den Beständen der IOR und des NAI entstammen, bilden diese Berichte die empirische Grundlage der Darstellung.

Das Bemühen der Kolonialregierung, dieses "third face" unter Kontrolle zu bekommen, sieht die Autorin als entscheidendes Motiv für das groß angelegte Kodifikationsunternehmen zwischen 1833 und 1882 (Kap. II). [1] Vielversprechend erschien die Vereinheitlichung des Rechts qua Kodifikation, die jedoch im Gegenteil Ungleichheit, Asymmetrie und "rule of colonial difference" (Partha Chatterjee) festschreiben sollte, was anhand des Codes of Criminal Procedure (1861) deutlich wird: Wenn dieser eigentlich zum Ziel hatte, auch die weiße Bevölkerung dem gleichen Recht zu unterstellen, institutionalisierte er dennoch auf rassischen Differenzen basierende Rechte und Privilegien, wozu Juries mit europäischen Mehrheiten für europäische, aber nicht indische Angeklagte gehörten, Verfahren vor den übergeordneten Presidency Courts für Europäer, aber nur lokale Verfahren für Inder; und eine je nach Herkunft divergierende Strafbemessung. Statt eines liberalen universellen Rechtskorpus schuf die Praxis des Code of Criminal Procedure parallel zum kulturell-determinierten Hindu law und Islamic law faktisch ein "personal law" für "European British citizens". Das Kolonialrecht konstruierte "racial identities", was Kolsky mit Rückgriff auf Ian Haney López als "the formal legal construction of race as the way in which laws as a formal matter, either through legislation or adjudication, directly engages in racial distinctions" versteht (103).

Methoden der Wahrheitsgenerierung im kolonialen Gerichtssaal unterstützten die rechtliche Ungleichbehandlung (Kapitel III): Neben dem Code of Criminal Procedure (1861) definierte der Indian Evidence Act (1872), den Law Member James Fitzjames Stephens entwarf, Forensik und die Figur des rechtsmedizinischen Experten im Gerichtssaal. Koloniale Vorstellungen über Eigenheiten der indischen Bevölkerung, ihre Körper und Kultur fanden Ausdruck im wissenschaftlichen Diskurs des Gerichts. Forensik wurde nach Kolsky zum "cultural event" (130) und verschob in der Verhandlung von Mordfällen Ursache und Wirkung: Prügelte ein Plantagenbesitzer seinen indischen Arbeiter zu Tode, lag dies nicht an der Stärke des Angriffs, sondern in der eigenartigen Schwäche der indischen Physis begründet. Sprichwörtlich wurden der "push with the foot" des Plantagenbesitzers und der allzu "vulnerable Indian spleen", was Jordanna Bailkin bereits anschaulich vorgeführt hat. [2] Die Rechtsmedizin bildete die Grundlage für Freisprüche trotz exzessiver Gewaltanwendung: Briten gingen bei Morden an indischen Arbeitern selbst bei eindeutiger Beweislage erschreckend häufig straffrei aus, was die rechtlichen Privilegien einer europäisch dominierten Jury und die Art der Beweisführung durch Criminal Procedure Code und Indian Evidence Act ermöglichten, die nach Meinung Kolskys durch die Kooperation von Richtern, Anwälten, Justizpersonals die rule of colonial difference klassenübergreifend entlang der "Rassen"grenzen befestigten.

Dies illustriert die Autorin in Kapitel IV am klassischen Thema von Recht und Gewalt auf den Teeplantagen Assams, auf denen Gewalt im System der "indentured labour" auf der Tagesordnung standen. Weiße Plantagenbesitzer verfügten faktisch über die Befugnisse von Magistraten, Arbeiter zu inhaftieren und in summarischen Verfahren zu verurteilen, ohne dass Rechtsbehelfe möglich oder der Einsatz der Polizei nötig gewesen wären. Wenn der Kolonialstaat hier jedoch das Gewaltmonopol bereits aus der Hand gegeben hatte, wie sollte er dann eben jene Pflanzer strafrechtlich für Missbräuche verfolgen, vor Gericht stellen und verurteilen können?

Ein Verdienst des Buches ist es zweifellos, die Bedeutung der weißen Gewalt in der "Rule of law" als Teil der enforceability of the law und in ihrem Ausmaß als systematisches Problem auszuweisen. Am überzeugendsten sind dabei weniger jene Passagen, in denen allein die beeindruckende Zahl von Fällen und Fehlurteilen der Kolonialjustiz Evidenz erzeugt, sondern vor allem in jenen, in denen Kolsky sich die Zeit nimmt, auf einzelne Fallstudien näher einzugehen (wie etwa anhand der gender justice-Beispiele). Wenigstens drei Fragen drängen sich auf: Stellte erstens das akute Problem weißer Gewalt die einzige Motivation der Law Members für ein Kodifizierungsunternehmen von mehr als 50 Jahren Dauer dar? Zweifellos bietet die Studie einen wesentlichen Aspekt und Mosaikstein für das Verständnis der inneren Dynamik der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Welche Rolle spielten hier jedoch zweitens andere Konfliktlinien: Spielten Trennungslinien im kolonialen Gerichtssaal nicht entlang der "Rassen"-, sondern der "Klassen"-grenzen und zwischen Exekutive und Judikative nicht vielleicht doch eine größere Rolle für die Ambivalenzen der Rule of law und ihrer Gewalthaftigkeit, als Kolsky dies konzedieren mag? Welche Möglichkeiten der colonial resistence schließlich, etwa "with the law" oder "against the law" (Ewick /Silbey) zu handeln, bieten sich? Die Optionen deutet Kolsky vor allem an. Die Problematik der Fehlurteile wurden von der Kolonialregierung durchaus erkannt; konsequente Maßnahmen zur Gegensteuerung blieben indes aus. Mit Besorgnis hatte so der Secretrary of State 1903 gegenüber Viceroy Lord Curzon geäußert: "It is these things that make me so pessimistic about India's future. We cannot ultimately hold the country with the assent of the better class of Natives if these miscarriages of justice are to be associated with our rule. Popular we can never be, but if we lose our reputation for justice the foundation of our prestige is gone." (139)


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu auch ihren konzisen Artikel: Elizabeth Kolsky: Codification and the Rule of Colonial Difference: Criminal Procedure in British India, in: Law and History Review 23 (2005), 631-683.

[2] Jordanna Bailkin: The Boot and the Spleen: When was murder possible in British India?, in: Comparative Studies in Society and History XX (2006), 462-493.

Verena Steller