Ulrike Lindner: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914 (= Globalgeschichte; Bd. 10), Frankfurt/M.: Campus 2011, 533 S., ISBN 978-3-593-39485-5, EUR 56,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hermann Mückler: Kolonialismus in Ozeanien, Wien: facultas 2012
Jakob Zollmann: Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894-1915, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Ulrike Schaper: Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884-1916, Frankfurt/M.: Campus 2012
Robin A. Butlin: Geographies of Empire. European Empires and Colonies c.1880-1960, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Thomas Morlang: Rebellion in der Südsee. Der Aufstand auf Ponape gegen die deutschen Kolonialherren 1910/1911, Berlin: Ch. Links Verlag 2010
Christoph Nonn: Das Deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang, München: C.H.Beck 2017
Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018
Andreas Hoffmann: Parteigänger im Vormärz. Weltanschauungsparteien im sächsischen Landtag 1833-1848, Ostfildern: Thorbecke 2019
Globale Vernetzung und nationale Abgrenzung, Kolonisierung Afrikas als machtpolitische Konkurrenz und als "gemeinsames imperiales Projekt" (10, 186 u.ö.) europäischer Mächte - dieses Spannungsfeld will Ulrike Lindner in ihrer Habilitationsschrift (Hochschule der Bundeswehr München) in einer "Verflechtungsgeschichte der kolonialen Situation" (11) analysieren. Das gelingt ihr vorzüglich. Sie betrachtet die deutschen und britischen Kolonien in Ost- und Südafrika und fragt nach den vielfältigen Interaktionen in diesem Feld: zwischen dem jeweiligen Staat und seiner Kolonie, zwischen den beiden Staaten, zwischen den benachbarten britischen und deutschen Kolonien, und gefragt wird auch, wie die Kolonisierten diese Interaktionen für sich zu nutzen suchten.
Auf breiter Quellengrundlage (staatliche und nichtstaatliche Archive in Großbritannien, Deutschland, Namibia und Südafrika; zahlreiche zeitgenössische Zeitschriften, Reiseberichte und andere gedruckte Quellen) werden drei große Bereiche untersucht: Wie Briten und Deutsche als Kolonisatoren in Afrika sich wechselseitig einschätzten und begegneten, wie sie die Kriege und Aufstände in der Kolonie des Nachbarn wahrnahmen und dabei kooperierten, wie der Rassismus in den Kolonien sich entwickelte und welche grenzübergreifenden Kontakte es dabei gab. Zu allen drei Bereichen wird zunächst der Forschungsstand skizziert (Experten werden sich diesen Teil kürzer wünschen), um dann den Blick auf die Verflechtungen zu richten. Dieses Konzept bringt auch in einem inzwischen so dicht erforschten Gebiet wie dem deutschen Herero- und Namakrieg weiterführende Ergebnisse. Dieser "Krieg war jederzeit in ein enges deutsch-britisches Netz aus Beobachtung und Interaktionen eingebettet." (225) Sowohl in der britischen und der südafrikanische Presse als auch in Berichten der britischen Militärexperten überwog das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft. Die britischen Militärbeobachter zeigten ein professionelles Interesse an der deutschen Kriegführung. Selbst dem deutschen Vernichtungskrieg konnte einer der beiden britischen "attached officers" im Hauptquartier der deutschen Truppen Positives abgewinnen: "Zwei kriegerische Völker seien vernichtet" worden (248). Man nahm diesen Krieg durchaus als "policy of extermination" (249) wahr, doch im Vordergrund stand das gemeinsame Interesse an der Herrschaftsstabilisierung. Daran beteiligte sich die britische Seite durch vielfältige Hilfen. Im Ersten Weltkrieg endete diese Form von Solidarität unter europäischen Kolonialherren. Damals endete auch die Kooperation zwischen deutschen und britischen Kolonisatoren, die in den ostafrikanischen Kolonien am intensivsten war. Dort war in den Küstenstädten in den Vorkriegsjahrzehnten eine "expatriate society" entstanden, die einen europäischen Lebensstil entwickelte und transnationale Lebenswege öffnete. Diese Abschnitte gehören zu den Glanzstücken des Buches. Individuelle Karrieren werden vorgestellt, Schiffe und Städte als transnationale Knotenpunkte und die vielen Wege des Wissenstransfers sichtbar gemacht. So entsteht das "Bild einer zwischen den Kolonien verschiedener Nationen reisenden und gut vernetzten europäischen Gesellschaft in Afrika" (185).
Zu den Vorzügen dieses Werkes gehört es, allgemeine Entwicklungen situativ zu konkretisieren. Dies zeichnet auch das abschließende Kapitel "Rassismus in den Kolonien" aus, das darlegt, wie Kolonisatoren mit der indigenen Bevölkerung und anderen Ethnien wie Indern oder Chinesen umgingen. Auch hier kann die Autorin ihre Analysen lebensweltlich präzisieren, wenn sie die "Bastardisierung" einer britischen Familie in Deutsch-Südwestafrika verfolgt. Die Einstufung als Weiß oder Nicht-Weiß musste hier über die Kolonialgrenze hinweg verhandelt werden, ausgetragen vor Gerichten und Verwaltungsinstitutionen, Klasse und Besitz flossen in die Rassenkonzepte ein, und Geschlechterstereotype konnten in der kolonialen Frontier-Gesellschaft durchkreuzt werden. Auch bei den Arbeitsmigrationen kam es zur konfliktreichen Kooperation zwischen den Kolonien und auf imperialer Ebene. Die britischen Behörden zeigten sich generell weniger geneigt, feste Regeln aufzustellen, nach denen die deutschen Institutionen verlangten. Doch letztlich kooperierten auch hier die Kolonialherren im gemeinsamen Interesse an billigen Arbeitskräften.
Auf deutscher Seite waren die "Konzepte der Dissimilation und die Ablehnung jeder Form von 'Mischlingsgesellschaften' wesentlich dominanter" (453) als auf britischer. Doch auch hier fällt die Bilanz eindeutig aus: die Überzeugung, "einer gemeinsamen Aufgabe in Afrika" gegenüberzustehen, eine "weiße europäische Identität" gegen alle anderen Ethnien aufrechterhalten und die "europäische Vormachtstellung in Afrika" verteidigen zu müssen (457), überwand vor 1914 die Differenzen. Ulrike Lindner warnt deshalb davor, von einem deutschen Sonderweg des Kolonialismus auszugehen und Kontinuitätslinien zur NS-Herrschaft zu ziehen. Sie plädiert statt dessen dafür, den Kolonialismus in Afrika vor dem Ersten Weltkrieg viel stärker als bisher als ein "gemeinsames Projekt der europäischen Kolonialherren" (458) zu sehen, in dem die britische Seite als Vorbild und zugleich zur Abgrenzung diente. Vor allem nach der Jahrhundertwende entstanden europäische Expertengesellschaften, die über die kolonialen Grenzen hinweg auf vielen Ebenen individuell und institutionell vernetzt waren. Wissenstransfer fand in der Wirtschaft oder in der Verwaltungspolitik ebenso statt wie in den Kriegen. Ulrike Lindner schließt mit einer Kritik an dem "Bild des Imperialismus als einer Epoche rivalisierender Staaten", die auf den Ersten Weltkrieg zulaufe. Der Globalisierungsprozess, wie sie ihn sichtbar macht, scheint in den Kolonien mehr transnationale Gemeinsamkeiten erzeugt zu haben als in Europa. Ein Werk also, das zur Diskussion einlädt. Kolonialgeschichte findet hier mit National- und Globalgeschichte zusammen.
Dieter Langewiesche