Rezension über:

Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 303 S., ISBN 978-3-525-35893-1, EUR 39,90
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Rezension von:
Olaf Richter
Stadtarchiv Krefeld
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Richter: Rezension von: Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/17701.html


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Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen

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Die Anfang der 1990er Jahre erschienenen Arbeiten von Paul Münch und Richard van Dülmen haben die frühneuzeitliche Forschungsperspektive auf die sozialgeschichtliche Thematik der "Lebensformen", wie die Publikation von Münch treffend lautet, in ihrem gesamten Spektrum zusammengefasst. Sie behandeln Alltag und Mentalität der vormodernen Menschen und kreisen insbesondere um die Begriffe Haus, Familie und Religion. [1]

Derartige Zusammenschauen müssen komplexe regionale Zusammenhänge in allgemeine Gefüge und Entwicklungen einordnen und auf übergreifende Tendenzen und aussagekräftige Beispiele reduzieren. Damit regen sie fast zwangsläufig zu neuen Untersuchungen an, die - wie in der vorliegenden Untersuchung - Einzelthemen vertiefen oder ausführlicher darzustellen vermögen.

Der in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdichtete Forschungsstand sowie die vermehrte Publikation von entsprechenden Quellenzeugnissen lieferten einen Ausgangspunkt für die vorliegende Darstellung über Eigenheit und zeitgenössisches Verständnis der Lebensalter. Die unterschiedlichen Materialien und vielfältigen Ergebnisse drängen zu Vergleich und Zusammenfassung sowie zur Ergänzung. Diese Aufgabe bestreitet der Autor mit 44 ausgewählten Selbstzeugnissen als hauptsächliche Quellengrundlage der vorliegenden Untersuchung, von denen zuvor bereits 41 publiziert worden sind.

Der eigentlichen Untersuchung ist ein einführendes Kapitel (9-45) vorangestellt, das zunächst die konkrete Fragestellung der vormodernen, sich über sieben oder zehn Jahre erstreckenden "Lebensstufen" und ihre grundlegende, ja rituelle Bedeutung für die Zeitgenossen anhand von Quellenbeispielen entwickelt. Von Greyerz betont, dass die dem 16. und 17. Jahrhundert unterstellte Abwertung des hohen Alters keineswegs von allgemeiner Aussagekraft ist. Die Einführung informiert zudem über die für das Thema zentralen Forschungsbegriffe Ehe oder Familie sowie teils auch knapp über Forschungsdiskussionen ('Ganzes Haus' / Großfamilie), schließlich über Rahmenbedingungen der Untersuchung, etwa die Faktoren, welche die demographische Entwicklung beeinflussen, dann über die Quellenbasis und ihre Probleme oder auch den betrachteten Raum, der sich laut Autor vornehmlich auf das deutschsprachige Gebiet erstreckt.

Der Autor will sich nicht auf die eigentlichen Selbstzeugnisse, etwa archivisch überlieferte handschriftliche Autobiographien, beschränken. Stattdessen sucht er daneben auch "stärker normativ ausgerichtete[] Texte" (7), das meint z.B. obrigkeitliche Mandate oder pädagogische Abhandlungen, sowie vor allem Bilder einzubeziehen, weshalb dem Text 32 schwarz-weiße Abbildungen und zwei Graphiken beigefügt sind, die leider vielfach zu klein ausgefallen sind.

Der darstellende Hauptteil (47-230) behandelt mit Blick auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten (Stände) die einzelnen sieben Lebensalter oder -stufen in ihrer Abfolge: Geburt (medizinische Umstände der Geburt, Tod von Mutter und Kind sowie die Verarbeitung dieser Schicksale durch die Zeitgenossen, Taufe), Kindheit (mit Diskussion der Vorstellung als einer von Erwachsenen anerkannten eigenständigen Lebensphase, des Weiteren spielerische Beschäftigung und konfessionell überformter Schulbesuch), Jugend (als Zwischen- oder Orientierungsphase mit spezifischen Ritualen, insbesondere hinsichtlich der nachfolgenden Lebensstufe der Ehe: Geschlechterbeziehungen, Gewaltkultur), Gesellenzeit / Studium (Akzeptanz von Gewalt, Umstände und Rituale der Ausbildung, korporative Zusammenschlüsse), Heirat (Alter, Zweck- und Liebesheiraten, Hochzeitsfest und Rolle der Kirchen, Wiederverheiratung), Ehe / Haushalt und Familie (Ehe als "Grundmodell der sozialen Vergemeinschaftung" (161) und ihre wirtschaftliche Relevanz, Verhältnis der Ehepartner zueinander sowie zu ihren Kindern und zur Hausdienerschaft) und Alter (Ansehen der Lebensphase unter den Zeitgenossen, Versorgung) sowie zuletzt, schon außerhalb der Altersstufen stehend, die Begrifflichkeit und Wahrnehmung des Todes ("Rückgang der Öffentlichkeit des Todes" (213), vorbereitetes und plötzliches Sterben, Verhältnis der Lebenden zu den Toten).

Das Schlusskapitel (231-236) stellt in der Rückschau auf das Modell der Lebensalter nun die Phase von Ehe, Haushalt und Familie als die Kernstufe heraus, und zwar in der Bewertung durch das konfessionelle Zeitalter sowie den seit dem 18. Jahrhundert einsetzenden Wandel hin zum modernen bürgerlichen Verständnis. Angesichts der Frage nach Ursachen betont von Greyerz die jüngere Deutung, nach der das "sukzessive Eindringen der monetären Kapitalwirtschaft in das Haus seit dem späteren 17. Jahrhundert" (232) mitentscheidend gewesen sei. Zugleich hätten zwei ältere Thesen weiterhin Bestand, nämlich die vorwiegend auf den städtischen Bereich bezogene Auffassung einer durch die Aufklärung hervorgerufenen Privatisierung und die Vorstellung eines durch die Industrialisierung bedingten Zersetzungsprozesses bei unterbürgerlichen Schichten.

Abschließend thematisiert von Greyerz den für ihn bei der Untersuchung vielfach zugrunde gelegten Begriff der "Liminalität", bei dem er auf Forschungen des belgischen Ethnologen Arnold van Gennep sowie des amerikanischen Kulturanthropologen Victor Turner zurückgreift. Liminalität soll die mit rituellen Verhaltensmustern verbundenen Übergänge (rites de passage) zwischen zwei Lebensstufen beschreiben, was weitgehend ein Spezifikum der behandelten Epoche darstelle.

Der mit ausführlichen Anmerkungen versehenen Publikation ist eine Aufstellung über die verwendeten Selbstzeugnisse (279-280), ein Verzeichnis der Abbildungen und Graphiken (280-281) und ein Quellen- und Literaturverzeichnis (282-296) sowie ein knapp gehaltenes Personen- und Ortsregister (297-303) beigefügt.

Kritisch bleibt vor allem in methodischer Hinsicht die Neigung des Autors anzumerken, aus einzelnen Beispielen allgemeine Schlüsse oder zumindest Vermutungen zu ziehen. So aufgrund einer Bemerkung von Johann Jakob Schiess über die aus finanziellen Gründen unterlassene Hinzuziehung eines Arztes bei der Geburt (Anfang 19. Jahrhundert) (49) oder das Überwiegen von Geldgaben bei Taufgeschenken in vorreformatorischer Zeit lediglich unter Bezugnahme auf ein einziges Hausbuch (64). Gleichwohl weist von Greyerz auf diese Problematik explizit hin, indem er davor warnt, eine gegen Ende des 18. Jahrhunderts getroffene Aussage von Johann Jakob Simler über die Geringschätzung einer zu hohen Kinderzahl allgemeine Gültigkeit zuzusprechen (74/75). Des Weiteren erscheint die Leistungsfähigkeit des mitunter überanstrengt zur Erklärung und Deutung verwendeten Begriffs der "Liminalität" bzw. der "rites de passage" fraglich. Welcher zusätzliche Erklärungsgehalt ist etwa mit der Aussage verbunden, dass sich Sterbende in "einem ausgeprägt liminalen Zustand" (235) befinden, wenn festgestellt werden kann, dass sie nun einmal dabei sind, die Welt zu verlassen und sich damit der Erfahrungs- und Begriffswelt der Weiterlebenden entziehen werden und bei diesem Übergang - entsprechend der ars moriendi-Literatur - stark teuflischen Anfechtungen ausgesetzt sein mögen?

Auch geschieht die Heranziehung von Forschungsergebnissen, vor allem aus Frankreich, nicht wie in der Einleitung formuliert, "nur sehr punktuell zur Erhellung einzelner Aspekte" (41), sondern fast regelmäßig. Das ist freilich nicht uninteressant, verleiht es doch der Untersuchung einen stärker vergleichenden Charakter. Schließlich sind die durchaus ins Auge fallenden, nicht nur vereinzelten Mängel des Satzes ebenso wie einige kontextuelle Unstimmigkeiten ärgerlich, die bei einer sorgsameren Durchsicht des renommierten Verlages hätten vermieden werden können (z.B. sogleich im ersten Satz falsche Berechnung des Lebensalters von Joseph Furttenbach (9), versehentlich eingesetztes Wort "Übersetzen" im Textfluss (67), Zeilenabbruch mitten im Text (100), "panegyrische Lobrede" (185), Fehlen des im Text besprochenen Holzschnitts mit der Darstellung der Männer, nur der entsprechende Holzschnitt der Frauen ist abgebildet (201, Abb.27)).

Trotz dieser Monita ist festzuhalten, dass von Greyerz mit der Publikation eine überlegt ausgewählte Zusammenstellung von relevanten und aussagekräftigen Quellen zu den einzelnen Themen um die Lebensalter vorgelegt hat. Seine Interpretationen sind alles in allem verständlich und ausreichend ausführlich, so dass der Rezipientenkreis nicht auf Fachleute beschränkt sein muss.

Die trotz der sicher nicht immer einfachen Präsentation der Quellenauszüge durchweg gut lesbare Studie dürfte die Leserschaft bisweilen anregen, sich mit den im Vergleich dargestellten Zeugnissen eigenständig auseinanderzusetzen oder auch spezifischen Fragen durch weiterführende Untersuchungen nachzugehen.


Anmerkung:

[1] Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500-1800, Frankfurt a.M. / Berlin 1992 und Richard van Dülmen: Das Haus und seine Menschen. 16.-18. Jahrhundert (=Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd.I), München 1990, ders.: Dorf und Stadt. 16.-18. Jahrhundert (=Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd.II), München 1992, ders.: Magie, Religion, Aufklärung (=Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd.III), München 1994.

Olaf Richter