Uwe Hebekus / Susanne Lüdemann (Hgg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, München: Wilhelm Fink 2010, 222 S., ISBN 978-3-7705-4908-5, 26,90
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Einem schwer zu fassenden Wesen ist dieser von den Literaturwissenschaftlern Susanne Lüdemann und Uwe Hebekus herausgegebene Sammelband auf der Spur: dem "Gespenst der Masse" (7). Seit dem Beginn der Moderne geistert es durch Europa, erscheint dem heutigen Beobachter gleichwohl nicht nur als ein Phänomen der Vergangenheit, sondern auch als ein gegenwärtiges "Kapital, um dessen Aneignung die Gesellschaft ringen muß" (8). Dabei gehen die Herausgeber von einem grundlegenden Wandel der Gestalt der Masse aus. Festgehalten in Politbarometern oder Börsenkurven begegneten wir heute einer Masse, die nicht mehr die triebhaft rebellierende Menschenmenge früherer Jahrhunderte repräsentiere, sondern zum Abstraktum und damit zum Orientierungspunkt eines normalisierten Alltagslebens geworden sei.
Wie sich dieser Wandel nicht nur ergab, sondern in literarischen, wissenschaftlichen und filmischen Produktionen hergestellt wurde, wie also die Masse mit den Augen ihrer Betrachter "vom exemten Ort der Rebellion und Revolution in die Niederungen erwartbaren Verhaltens" (8) wanderte, will der Band ergründen. Den Herausgebern geht es hierbei nicht nur um die inhaltliche Analyse einflussreicher zeitgenössischen Massenbeschreibungen. Vielmehr soll die "performative Kraft" (14) solcher Darstellungen untersucht werden, ihre normalisierende und regulierende Wirkung. Erst in der Formung durch Beobachter, so die Ausgangsthese des Bandes, wurde die Masse überhaupt sichtbar. Plausibel ist es, diese analytische Perspektive auf die Geschichte der Massenbeschreibungen mit einem medienhistorischen Ansatz zu verbinden und zu fragen, welche Mittel der Darstellung im Verlauf der Zeit gewählt wurden und wie daraus nicht nur eine Ästhetik, sondern eben auch eine Politik der Masse entstand.
Die angestrebte Verkopplung von Medien- und Diskursgeschichte leisten allerdings nicht alle Beiträge des Bandes gleichermaßen. Ein größerer Teil der insgesamt neun Einzelstudien bietet am Beispiel des wissenschaftlichen und literarischen Höhenkamms primär diskurshistorische Analysen. Hier finden sich anregende Lektüren wichtiger massentheoretischer Texte (etwa in Urs Stähelis Beitrag zum Begriff der "Population" und des "Publikums" bei Foucault, Luhmann und Tarde) sowie Nahsichten auf literarische Beschreibungen der Masse (so Lüdemanns Analyse von E.T.A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster" oder Michael Neumanns Interpretation einer Erzählung Kafkas). Das Mediale der untersuchten Massenbeschreibungen spielt dabei letztlich keine erkenntnisleitende Rolle, auch wenn der Begriff des Mediums in den Texten vorkommt. Die gelegentlich hermetische Sprachlichkeit einzelner Beiträge macht es zudem nicht immer leicht, der Argumentation zu folgen. Gleichwohl wird aus der Zusammenstellung der unterschiedlichen Beispiele deutlich, dass das Dilemma von Individuum und Kollektiv, von Einzelnem und Gesellschaft den bleibenden Kern einer komplexen Debatte ausmacht, die seit über zweihundert Jahren "interdisziplinär" geführt wurde.
Spannend (und dem Untertitel des Bandes gerecht) wird diese Perspektive besonders dort, wo sie explizit mit den historischen Erfahrungen der zeitgenössischen Beobachter verknüpft wird wie in Burkhard Wolfs Ausführungen zur Konstituierung der Bevölkerungsstatistik oder in Ingrid Wursts Beitrag zu Carl Gustav Carus' Psychophysiologie. Wurst betont, wie der Erfahrungskontext der Französischen Revolution und die Denktraditionen einer transnationalen Publizistik in einer Weise zusammenwirkten, welche die Masse vor allem als Irrationales und Triebhaftes beschreibbar machte. Ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Denkern der Zeit war vor diesem Hintergrund, dass der Romantiker Carus die von den Massen verkörperte Unordnung des Seelenlebens nicht als Bedrohung, sondern als Ursprung der Ordnung deutete. Auch Michael Gampers Beitrag zur Dichtung als Medium der Menschenmenge leistet diese historische Kontextualisierung - zugleich verknüpft er seine Überlegungen mit einem tatsächlich medienhistorischen Blick. Er entwirft eine Typologie der Literatur als Mittel der "Darstellung", "Erfahrung" und "Regulation" und "Reflexion" und spannt so systematisch das Feld auf, innerhalb dessen die "diskursive und imaginative Existenz" (93) der Masse literarisch greifbar wurde. Gamper zufolge ist Literatur gerade deshalb für die Beschreibung dieser flüchtigen Existenz besonders geeignet, weil sie das Imaginäre in ihren medialen Eigenschaften, ihren sprachlichen Techniken und ihrer Fiktionalität selbst repräsentiere.
In solchen analytischen Vermittlungen zwischen den medialen Eigenschaften der untersuchten Darstellungen und der Beschaffenheit des Masse-Diskurses zu unterschiedlichen Zeiten liegt die Stärke des Sammelbandes. Dies zeigen auch die filmhistorischen Aufsätze, insbesondere der Beitrag von Uwe Hebekus zu Leni Riefenstahls "Triumph des Willens". In seiner Analyse wird die totalitäre Massengesellschaft im Moment ihrer Produktion durch das Medium Film erkennbar, zugleich verbindet Hebekus seine filmgeschichtlichen Thesen mit Überlegungen zur Herrschaftstheorie des Nationalsozialismus. Damit werden die Darstellungs- und Deutungsstrategien von Kunst, Politik und Wissenschaft gleichermaßen in den Blick und als Ausdruck ihrer Zeit ernst genommen.
Das Historische wird so nicht auf die Funktion als folkloristischer Hintergrund oder bloße Zeitangabe reduziert. Dass dies nur ein kleinerer Teil der Beiträge versucht, ist der zentrale Kritikpunkt an einem Band, der sich explizit als Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge versteht. Auch hätte eine solche Geschichte, wollte man sie nicht allein als elitäre Ideengeschichte verstehen, durchaus einige Blicke auf die Niederungen gesellschaftlicher Selbstverständigung jenseits der Klassikerexegese vertragen: Die Darstellung der Masse in der politischen Karikatur, überhaupt in der populären Presse und Literatur, in Predigten, Schulbüchern oder Fernsehsendungen, kurz: innerhalb stärker publikums- und handlungsorientierter Wissensfelder, wäre sicherlich ein fruchtbares Feld für exemplarische Analysen gewesen - zumal in medienhistorischer Perspektive. Auch die Frage, inwiefern es sich bei den diversen Perzeptionen der Massen um national, sozial oder kulturell bedingte Wahrnehmungsweisen handelte, wird nicht systematisch für alle Beiträge gestellt. Da sie somit nur vereinzelt in gesellschaftliche Kontexte und Handlungszusammenhänge eingebettet werden, bleibt die performative Bedeutung der Massenbeschreibungen in der Zusammenschau des Bandes eine Annahme, der genauer nachzugehen weitere Forschungen wert wäre.
Stefanie Middendorf