Rezension über:

Sonja Profittlich: Mehr Mündigkeit wagen. Gerhard Jahn (1927-1998). Justizreformer der sozial-liberalen Koalition (= Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 85), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, 351 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-4196-4, EUR 32,00
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Rezension von:
Jan Hansen
Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jan Hansen: Rezension von: Sonja Profittlich: Mehr Mündigkeit wagen. Gerhard Jahn (1927-1998). Justizreformer der sozial-liberalen Koalition, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19540.html


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Sonja Profittlich: Mehr Mündigkeit wagen

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Gerhard Jahn war als Bundesjustizminister ein wichtiger Protagonist jener Reformvorstellungen, die Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 1969 formuliert hatte. Viele Zeitgenossen nahmen die Bildung der SPD/FDP-Koalition als gesellschaftlichen Aufbruch wahr und verbanden mit ihr große Hoffnungen. Vor diesem Hintergrund lancierte Jahn Neuerungen der Rechtsordnung, die von dem Anspruch getragen wurden, Gesellschaft zu gestalten. Dass der sozial-liberale Regierungsantritt "Modernisierung" versprach (um im zeitgenössischen Jargon zu bleiben), sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Reformen eine gesellschaftliche Debatte in Gang setzten, von der fraglich war, ob sie einen neuen Konsens begründen würde.

In ihrer nun als Buch vorliegenden Bonner Dissertation untersucht Sonja Profittlich das (politische) Leben des Mannes, der die Rechtsreformen von 1969 bis 1974 qua Amt verantwortete. Dass ihr Fokus nicht allein auf biographischen Aspekten liegt, wird daran deutlich, dass sie auch fragt, ob Gerhard Jahns Reformen "als Konsequenz Änderungen der gesellschaftlichen Strukturen herbeigeführt oder eingeleitet haben" (14). Thesenartig vermutet sie, dass die sozial-liberalen Reformvorstellungen "zu einer Zweiteilung und Polarisierung der Gesellschaft geführt haben" (14).

Profittlich erzählt das Leben Gerhard Jahns chronologisch in acht Kapiteln. Nachdem sie die Bedeutung der frühen Erfahrungen Jahns im Nationalsozialismus für seine Hinwendung zur Sozialdemokratie herausgearbeitet hat, schildert sie seine politischen Anfänge als junger Abgeordneter des Bundestagswahlkreises Marburg und seinen rasanten Aufstieg zum rechtspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion. Dass Jahn 1966 mit Brandt als Staatsminister ins Auswärtige Amt einzog, deutet Profittlich als Folge seiner Reputation, die sich Jahn nach zwölf Jahren im Bundestag erworben hatte. Tatsächlich fungierte Jahn dann auch weniger als außenpolitischer Stichwortgeber Brandts, denn als Verbindungsmann zur Fraktion.

Nach der Bildung der sozial-liberalen Koalition übernahm Jahn das Justizressort, in dem sich die Reformeuphorie der frühen Regierung Brandt bündelte. So kennzeichneten eine Reihe von Gesetzesinitiativen die Amtszeit Jahns. Neben der Neuordnung des Eherechts behandelt Profittlich ausführlich die Kontroverse um den § 218, dessen Reformulierung zu den zentralen Anliegen des Ministers gehörte. Paradigmatisch verdeutlicht der Abtreibungsstreit das bald zutage tretende Dilemma Jahns, der von den Gegnern seiner Reformideen (auch in der SPD) in Grabenkämpfe gezwungen wurde und dabei den gestalterischen Impetus verlor. Im Streit der unterschiedlichen Vorstellungen über die Reichweite (weniger die Richtung) der Reformen und angesichts massiver gesellschaftlicher Widerstände - die Neuformulierung des § 218 scheiterte 1976 vor dem Bundesverfassungsgericht - geriet Jahn in die politische Isolation. Nachdem auch die Umsetzung anderer Reformen immer mehr stockte, war es fast schon folgerichtig, dass er mit dem Wechsel von Brandt zu Schmidt 1974 aus dem Kabinett ausschied.

Nicht nur dem "Spiegel" galt Jahn als "Minister ohne Fortüne" (283). Gemessen an unmittelbaren Erfolgen fällt es tatsächlich schwer, seiner Rechtspolitik eine positive Bilanz zu bescheinigen. Auch wenn Jahns Reformvorstellungen in den späteren Jahrzehnten zu einem nicht geringen Teil gesellschaftlicher Konsens geworden sind, war ihre Umsetzung in den 1970er Jahren doch mit erheblichen Mühen, Rückschlägen und Misserfolgen verbunden. Profittlich deutet diese Bilanz als Überforderung der gesellschaftlichen Reformbereitschaft und schlussfolgert, dass der reformerische Anspruch der sozial-liberalen Koalition den Menschen "bisweilen zu viel zugemutet" (330) habe. So mündete die Reformeuphorie in einer Polarisierung der Gesellschaft, wobei die Verunsicherung, die diese Politik in Teilen der Gesellschaft hervorrief, als Katalysator einer "konservativen Tendenzwende" [1] fungierte, die allerdings erst 1982 einer neuen Regierungskoalition zur Macht verhalf.

Abschließend ordnet Profittlich ihre Ergebnisse in die Kontroverse um Bernd Faulenbachs Diktum von den 1970er Jahren als "sozialdemokratischem Jahrzehnt" ein. [2] Dabei distanziert sie sich insoweit von Faulenbach, als dass sie die konkurrierenden Einflüsse der Studenten-, Frauen- und Umweltbewegung - und der FDP! - auf die Bildung des reformerischen Elans hervorhebt. In diesem Sinne möchte sie lieber von einem "linksliberalen Jahrzehnt" (333) sprechen. Ob die historische Analyse mit einer solchen Modifizierung Tiefenschärfe gewinnt, bleibt aber insbesondere deshalb unklar, weil Profittlichs These vom "linksliberalen Jahrzehnt" mit ihrer Rede von einer "Spaltung der westdeutschen Gesellschaft in einen progressiven und einen konservativen Teil" (332) konfligiert bzw. besser hätte ausgedeutet werden müssen. Die Einwände gegenüber einer solchen Etikettierung bleiben bestehen.

Bedauerlich ist ferner, dass Profittlich die in der zeitgenössischen Forschung diskutierten Thesen zum Planungsdenken der Regierung Brandt und ihrer Reformeuphorie unbeachtet lässt. So herrschte gerade in der sozial-liberalen Koalition das Verständnis von der Rechtspolitik als Instrument der Gesellschaftsveränderung vor. In diesem Zusammenhang hätte sich die konsequente Historisierung der Reformen als Ausdruck eines Politikbegriffs angeboten, der Gesellschaft als planbar zeichnete. Selbst das Scheitern dieser Politik und ihre Auflösung im zeitgenössischen Interpretament einer "Krise des Regierens" ließe sich anknüpfend an aktuelle geschichtswissenschaftliche Debatten historisieren. [3]

Dennoch hat Profittlich eine informierte Biographie geschrieben - und dies in gutem Stil -, die von denjenigen konsultiert werden sollte, die sich für die Person Jahns und die sozial-liberale Rechtspolitik interessieren. Dabei macht insbesondere die gelungene Verknüpfung der Lebensgeschichte Jahns mit den Ideen, der Umsetzung und dem Scheitern der Reformen den besonderen Reiz dieses Buches aus.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Axel Schildt: "Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten". Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: AfS 44 (2004), 449-479.

[2] Vgl. Bernd Faulenbach: Die Siebzigerjahre - ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? in: AfS 44 (2004), 1-37.

[3] Vgl. Gabriele Metzler (Hg.): Krise des Regierens in den 1970er Jahren? Deutsche und westeuropäische Perspektiven, Paderborn 2011.

Jan Hansen