Alexander Wiesneth: Gewölbekonstruktionen Balthasar Neumanns (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 167), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2011, 319 S., ca. 496 farb. und 146 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07030-1, EUR 68,00
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Die Dissertation entstand am Münchner Lehrstuhl für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege. Dies weist bereits auf den Inhalt: akribische Einzelstudien anhand von Baubefunden, Vermessungen, Dokumentationen, Analysen bis hin zu Wertungen aus bautechnischer Sicht.
Der Autor präsentiert drei Hauptteile: Zuerst führt er mit den Vorbedingungen der Wölbkunst in Balthasar Neumanns Werk ein. Am Beginn steht Petrinis Kuppelbau im Stift Haug samt Beschreibungen der Konstruktionsmerkmale bis hin zur Rekonstruktion der Eisenankersysteme und den Anteilen der Zimmererkunst Joseph Greissings. Am Beispiel der Stiftskirche Großcomburg werden die Spezifika eines gewölbten Großbaus dargestellt, wieder mit dem Ziel, aus der Konstruktion baumeisterliche Intentionen und bautechnisches Verständnis abzuleiten. Untersuchungen zur Kuppel des Neumünsters in Würzburg und Beobachtungen zu Bauten der Dientzenhoferbrüder im Bistum Bamberg ergänzen die Befundsituation.
Einen ersten Schwerpunkt bildet die Klosterkirche Banz. Besonders aufschlussreich ist der vom Entwurf ausgehende definitorische Charakter der Hauptgurtbögen, zwischen die sich die weniger exakten Wölbflächen spannen. Aus den Vermessungen ergeben sich Aussagen zu den Lehrgerüstkonstruktionen und Vergleichsmöglichkeiten zu erhaltenen Planunterlagen: Interessant sind dabei die Rückschlüsse zum Entwurfsverfahren, auf die stringenten Aufriss-Grundriss-Bezüge samt den notwendigen Projektionen im Bauprozess. Auszüge aus zeitgenössischen Traktaten zu technischen Problemen, zu Wölbformen, Steinschnitt, Lehrgerüsten, Ankersystemen, technischen Handhabungen usw. beleuchten die konstruktiven Aspekte von ihrer theoretischen Seite.
Im zweiten Hauptteil demonstriert der Autor Bauforschungsergebnisse zu den Gewölbebauten Neumanns: Zu den ausgewählten, nach Typen gruppierten Wölbungen gehören die zylindrischen Wölbungen in Maria Limbach und in der Würzburger Residenz, die kuppeligen Gewölbe in der Hofkirche der Würzburger Residenz samt aufschlussreichen Vergleichsbauten, und die Mischformen in Gaibach und Kitzingen-Etwashausen.
Dem kurzen Abriss der relevanten Bau- und Forschungsgeschichte folgen umfangreiche Befundsammlungen zum Gewölbe, Dachwerk, Ankersystem und Lehrgerüst, zu den jeweiligen konstruktiv-bautechnischen Zusammenhängen und deren Berücksichtigung etwa in Planungsphasen. Die Dokumentationen zeugen von großer Sorgfalt: Die detaillierten Bauaufnahmen und Aufmaße münden in anschaulichen Bestandszeichnungen (Isometrien, Schnittdarstellungen, auch ausklappbare Großformate, Detailzeichnungen und Schemata) und Beschreibungen. Aussagekräftige Quellen zur Bautechnologie im Kontext der baugeschichtlichen Abläufe runden die Einzelstudien ab. Umfangreiches fotografisches Material dient der Veranschaulichung, sodass die bautechnischen Zusammenhänge auch für ungeübte Leser nachvollziehbar sind.
Auf dieser soliden Basis lassen sich die spezifischen Architekturlösungen Balthasar Neumanns in bauhistorische Zusammenhänge einordnen und mit bauorganisatorischen und personellen Verbindungen zwischen den verschiedenen Bauwerken parallelisieren, sodass die großartigen Entwurfs- und Bauleistungen nicht allein Neumann zugesprochen werden, sondern die Bauleistungen vergleichsweise konkret auch Innovations- und Transferleistungen anderer Beteiligter berücksichtigen.
Der dritte Hauptteil präsentiert die Gewölbekonstruktionen Neumanns zwischen Tradition und Innovation. Zum einen gelingt dies durch den Vergleich der baubezogenen Analyseergebnisse untereinander und durch die Neubewertung zugehöriger Planunterlagen, letztlich auch mit der Darstellung relevanter Differenzen zwischen Planungsidee und Ausführung. Die Analysen überzeugen vor allem dadurch, dass der Autor Dach- und Gewölbebau als Einheit begreift.
Am Ende steht die Neubewertung der Wölbkunst anhand des Risses SE 129 zur Neresheimer Klosterkirche, den der Autor als Essenz der Arbeit Balthasar Neumanns sieht, auch wenn dessen Sohn Franz Ignaz Michael Neumann die Wölbung ausführte.
Die Ergebnisse werden schlussendlich auf offene Fragen bezogen, die eingangs aus dem Forschungsstand abgeleitet wurden: Können Neumanns Bauten im Vergleich mit zeitgenössischen oder früheren Großgewölbebauten überhaupt als außergewöhnlich gelten? Was ist das konstruktiv Besondere? Entwickelte er neue Techniken und Planungsmethoden? Von welchen Spezialisten konnte Neumann lernen? Wie erfolgte der Wissenstransfer (auch auf Handwerkerebene) und welche Bedeutung kam den Reiseaktivitäten zu? Ein gesonderter Blick richtet sich auf die Parallelen und Divergenzen zwischen gebauten Konstruktionen Neumanns, der bautechnischen und fortifikatorischen Traktatliteratur und Werken anderer Meister.
Der Autor kommt zu neuen Ergebnissen, da seine Methoden erstmals eine faktische Bewertungsgrundlage bereitstellen, um bisherige Einschätzungen zu Neumanns Werk zu objektivieren. Bisher beruhten konstruktive Aussagen auf dem Augenschein, und die vagen Beobachtungen standen im Kontrast zum postulierten Urteil Neumanns als genialen Bautechniker.
Die Stärken dieser Arbeit liegen in der Klarheit, wie mit dem Wissen um Konstruktionstechniken im Entwurfs- und Bauprozess architekturrelevante Urteile gefällt werden. Diesbezüglich wäre zu überlegen, ob neben den Fragen der statischen Standsicherheit und Funktionsweise einer Konstruktion nicht noch in viel stärkerem Maße auch Aspekte der Technologie, also Bedingtheiten in den Bauabläufen, spezielle Montageverfahren, temporär notwendige Konstruktionszustände o.ä. die Formgebung mit beeinflussten.
Insgesamt ist die Arbeit ein wichtiger Beitrag zum Werkverständnis Balthasar Neumanns im Speziellen und zur Bewertung von barocken Architekturen im Zusammenhang von Form und Konstruktion ganz allgemein.
Nur in einem irrt der Autor: Er meint, die Studie würde eine Lücke schließen, die es beispielsweise in der Forschung zum spätgotischen Gewölbebau nicht mehr gebe. Zwar verfügen wir bereits über zahlreiche Untersuchungen zu spätgotischen Wölbungen und ihren Entwurfsprinzipien, doch reichen sie kaum an die Ergebnisse zur barocken Wölbkunst heran: Dies hat vor allem zwei Gründe: Die Barockarchitektur und zugehörige Traktatliteratur lassen einerseits konkretere Rückschlüsse auf die Lehrgerüstkonstruktionen zu, die als Schnittstellen zwischen Entwurf und Ausführung von enormer Bedeutung waren; vor allem auch für die Formgebungen in Abhängigkeit zum Prozess. Andererseits fehlen der Spätgotikforschung Ergebnisse, die auf die Bedeutung der Dachwerke für die Konstruktion der Wölbungen, auf statisch-konstruktive Zusammenhänge zwischen Mauerwerk, Dach- und Wölbkonstruktionen insgesamt und damit auf erweiterte Gestaltkriterien exzeptioneller Raumbilder hinweisen. Hier fehlen bauarchäologische Studien, die in ähnlicher Form die Befunde der Holz- und Steinwerke aufeinander beziehen. Insofern kann Wiesneths methodisches Herangehen auch den Forschungen zur mittelalterlichen Baukunst als Vorbild dienen.
Stefan Bürger