Robert Bork: The Geometry of Creation. Architectural Drawing and the Dynamics of Gothic Design, Aldershot: Ashgate 2011, XXI + 462 S., 240 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-6062-0, GBP 65,00
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Robert Bork zeigt eindrucksvoll, wie sich das "architektonische Feuerwerk" gotischer Kirchen, sowohl ihre Formen im Großen und Ganzen als auch die Details, auf grundlegende Geometrien mit einfachen Handhabungen und Werkzeugen zurückführen lässt. Dafür untersucht er die geometrischen Methoden und versucht, die Arbeitsweisen gotischer Zeichner Schritt für Schritt zu rekonstruieren, um darzustellen, wie sie ihre Baupläne entwarfen. Und er möchte nachweisen, dass die gotischen Architekturen und ihre Tradierungen mehr geregelten Verfahrensweisen unterlagen denn festen Proportionsregeln und -systemen. Damit schärft er den Blick für das gotische Bauen als Prozess, das nachweislich anderen architektonischen Prinzipien folgte als die Baukunst späterer Epochen.
Die Klammer bilden die frühen Zeichnungen Villard de Honnecourts und die späten Werkmeisterbücher Roriczers, Schmuttermayrs und Lechlers um 1500. Borks Untersuchungen richten sich auf die fundamentale gotische Methode: den Auszug, jenes Verfahren, aus einem Grundriss einen dreidimensionalen Aufbau abzuleiten. Als paradigmatische Produkte gotischer Architekturgestaltung sieht er die überlieferten Konstruktionsbeschreibungen der Fialenbüchlein. Deren Verfahren und Prinzipien nimmt er als Leitmodelle für seine Analysen der Aufriss- und Grundrisszeichnungen. Im Grunde will er jene Beschreibungen nachliefern, die mutmaßlich die gotischen Meister ihren Plänen beigegeben hätten, um ihr geometrisches Vorgehen im Zeichenprozess zu erläutern.
Dabei steht Bork wie die mittelalterlichen Meister vor dem Problem, dass sich die geometrische Logik gotischer Architektur nur schwer in Worte fassen lässt. Die Diskrepanz zwischen der Pragmatik des Entwerfens und der Erklärbarkeit der Vorgänge hat seit jeher dazu eingeladen, der mittelalterlichen Baukunst Geheimniskrämerei zu unterstellen und ihre mathematischen bzw. geometrischen Inhalte und Prinzipien zu mystifizieren. Genau hier liegt ein großer Wert des Buches, da es das Schaffen der mittelalterlichen Meister auf eine sachliche Ebene zurückführt. Bork verweist dafür auf die Irritationen des Forschungsvorlaufs, zeichnet die Forschungsgeschichte zu geometrischen Zeichnungen nach und stellt die Bedeutung von Konrad Hechts 'Maß und Zahl in der gotischen Baukunst' heraus.
Bork beginnt mit den frühen Zeichnungen des 13. Jahrhunderts und führt die Analysen bis zu den Zeichnungen zum Ende der gotischen Ära durch, erfasst die Zeichnungen aus Frankreich ebenso wie jene aus Spanien, Italien und dem Heiligen Römischen Reich. Einen Kernbestand bilden zweifellos die Konvolute des deutschsprachigen Gebiets, da sich dort über 480 der rund 600 Zeichnungen erhalten haben.
Der wichtigste Zweck des Buches ist es, zu zeigen, nachvollzogen in detaillierten Schritten, wie ein gotischer Zeichner mit einfachen Mitteln und grundlegenden geometrischen Operationen eine architektonische Struktur entwerfen konnte. In der Art und Weise wie schon Roriczer seine geometrischen Konstruktionen beschrieb, geht auch Bork vor. Die detaillierten Prozeduren würden dabei ohne jene beigefügten Zeichnungen (jeweils Originalplan mit verdeutlichendem Layer zur geometrischen Konstruktion) unverständlich bleiben, ebenso umgekehrt. Und so offenbaren sich im Wechselspiel zwischen Wort und Bild selbst komplexe Zeichnungen als im Grunde aus einfachen Operationen zusammengesetzte Gebilde. Der bisweilen langatmige und mühsame Nachvollzug der geometrischen Operationen liegt dabei nicht im System geometrischer Prinzipien begründet, sondern in dem langen Atem, d.h. in dem immensen Aufwand und den enormen Arbeitsleistungen, die die gotischen Zeichner und auch der Autor nicht gescheut haben.
Abgerundet wird der Hauptteil zu den Zeichnungsoperationen mit der Überlegung, inwiefern es in der italienischen Renaissance zu Veränderungen der geometrischen Entwurfsprozesse kam und die neuen Entwurfskonzepte zur neuen Erscheinung der frühneuzeitlichen Baukunst beitrugen. Die gotische Architektur unterlag vereinfacht gesagt einer Geometrie mit Teilungen und Unterteilungen, die Renaissancearchitekturen eher Kombinationen, unteilbaren Größen und festen Formzusammenhängen. Bork stellt einige Überlegungen an, warum letztlich die Entwurfspraktiken der Renaissance die Oberhand gewannen.
Bork trägt Maßgebliches zur wissenschaftlichen Diskussion über die gotische Baukunst bei. Bemerkenswerte Funde geben Einblicke in die jahrhundertewährende Entwicklung gotischer Baukultur und in die dynamischen Prozesse des Entwerfens mit einfachen geometrischen Operationen, die im Endresultat zu komplexen Formen führen können. Sehr praktikabel waren dafür jene häufig anzutreffenden Formen: Quadrate, gleichseitige Dreiecke, Oktogone; geometrische Formen, die mit Zirkel und einfachen Verfahren herzustellen sind. Die Rationalisierungen der Entwurfsgeometrie und deren Prinzipien korrelieren dabei mit entsprechenden theoriefähigen Begrifflichkeiten wie "ad quadratum" oder "ad trinangulum", die jedoch kaum ausreichen, um die Möglichkeiten gotischer Entwurfsverfahren nur annähernd zu verbalisieren. Schon das Fehlen von Begriffen wie "Oktatur" oder "Hexatur" adäquat zu "Quadratur" sieht Bork als unzureichende Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache.
Insofern stellen die Zeichnungen selbst das intensivste und instruktivste Medium dar, um die Prinzipien und Möglichkeiten darzustellen. Beschreibungen können das Gezeigte kommentieren bzw. das Nichtgezeigte, nämlich die Handgriffe des Entwerfers, beschreiben, um einen Nachvollzug zu erleichtern. Die Logik, wie die gotischen Formen dabei den geometrischen Prozessen entspringen, soll und muss auch den Skeptiker davon überzeugen, dass die geometrischen Entwurfsmethoden eine zentrale Rolle in der gotischen Baukunst spielten.
Angedeutet wird auch, dass es neben den geometrischen Methoden auch weitere Strategien gab, mit denen sich gotische Architekturen bemessen und errichten ließen, insbesondere modulare Maßhaltungen. Das Verhältnis und Zusammenspiel wird bereits bei einigen Zeichnungen besprochen, jedoch als Phänomen nicht systematisch untersucht, da dies auch die umfassende Analyse von gebauten Werken bedeutet hätte. In diesem Zusammenhang wäre zu überlegen, ob sich die detaillierten geometrischen Verfahren auch im Verhältnis zu den agrimensorischen Verfahren, den Mess- und Entwurfstechniken entwickelten, mit denen die auf einem Planmedium konzipierten Geometrien auf den Baugrund und die Bauwerke übertragen wurden. Gaben vielleicht jene Praktiken auf dem Bauplatz auch die Richtung bzw. den Rahmen für die geometrischen Verfahren der maßstäblich kleineren Planzeichnungen vor? Etlichen Forschungsperspektiven wird Borks Werk als überaus verlässliche Basis und Wegweiser dienen: entsprechenden Analysen geometrischer Konstruktionen an gebauten Werken sicherlich, vor allem aber auch Untersuchungen zum Formtransfer und zur medialen Bedeutung von Zeichnungen im Bauprozess. Für Mittelalter-Architekturhistoriker ist dieses Werk unverzichtbar!
Stefan Bürger