Peter Haslinger: Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880-1938 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 117), München: Oldenbourg 2010, X + 531 S., ISBN 978-3-486-59148-4, EUR 59,80
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Moderne Nationen bedürfen eines konkret umrissenen Territoriums, das sie als Staats- oder Siedlungsgebiet für sich beanspruchen, und zwar exklusiv. Daher war nicht zuletzt die ethnische Gemengelage in Ostmittel- und Südosteuropa dafür verantwortlich, dass Nationalitätenkonflikte durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hier immer wieder zu "ethnischen Säuberungen" und den mit ihnen untrennbar verbundenen schwersten Gewaltexzessen geführt haben.
Doch wie entstehen derartige Raumbilder einer Nation, zumal in ethnisch gemischten Regionen, in denen Nationalstaaten erst vergleichsweise spät entstanden? Wer wirkt an ihrer Schaffung mit, wie setzen sie sich durch und wie verändern sie sich gegebenenfalls im Lauf der Zeit? Diese und andere Fragen untersucht Peter Haslinger in seiner Freiburger Habilitationsschrift am tschechischen Fall. Das Beispiel ist mit Bedacht gewählt, steht es doch stellvertretend für die vielen "kleinen Nationen" (Miroslav Hroch), die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil eines multinationalen, auf dynastischen Prinzipien beruhenden Imperiums gewesen sind.
Gestützt auf einen breiten theoretischen Rahmen, den er in der Einleitung entwickelt, nähert sich Haslinger seinem Untersuchungsgegenstand mit dem Instrumentarium der Diskursanalyse. Er arbeitet überzeugend heraus, dass es weder Sprache und Kultur noch gar das "Blut" der Bevölkerung in bestimmten Landstrichen gewesen sind, die das Kanaan in den Köpfen tschechischer Nationalisten konstituierten, sondern staatsrechtliche Traditionen: Das imaginierte Territorium der tschechischen Nation markierten die Länder der Wenzelskrone. Hier, d.h. in Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien, befanden sich die Tschechen gegenüber den dort lebenden Deutschen - der Sammelbegriff "Sudetendeutsche" sollte erst in der Zwischenkriegszeit aufkommen - aufs Ganze gesehen in einer klaren Mehrheit.
Durch das böhmische Staatsrecht, das vor dem Ersten Weltkrieg im Zentrum des tschechischen Diskurses um die erwachte Nation stand, avancierte das Territorium zu einer "nationalitätenpolitische[n] diskursive[n] Ressource" (67). Mit dem Rekurs auf das Staatsrecht, also auf die Unteilbarkeit der historischen Länder, ließen sich nämlich die territorialen Ansprüche der Deutschen zurückweisen, die in den Randgebieten des böhmisch-mährischen Hufeisens die Bevölkerungsmehrheit und im Landesinneren eine einflussreiche Minderheit stellten.
Haslinger untersucht das "imagined territory" der tschechischen Nation von seiner Kanonisierung in den 1880er Jahren bis zur Zerstörung der Zweiten Tschechoslowakischen Republik im März 1939 durch den Einmarsch von Hitlers Wehrmacht. Die chronologisch aufgebaute Arbeit umgreift somit die Zäsur des Ersten Weltkriegs und der Neuordnung Ostmitteleuropas. Sie behandelt zentrale Themen wie die Sprachenfrage (sowohl in der k.u.k. Monarchie als auch in der Tschechoslowakei), den Mährischen Ausgleich von 1905/06, die Debatte um die Grenzen eines tschechoslowakischen Staates während des Ersten Weltkriegs und nach Kriegsende oder die Diskussionen um die Autonomieforderungen der Sudetendeutschen und den Weg zum Münchner Abkommen von 1938.
Der wichtigste Befund scheint mir die erstaunliche Stabilität des Raumbildes der tschechischen Nation im tschechischen nationalen Diskurs zu sein. Das lag in erster Linie daran, dass der Rekurs auf das böhmische Staatsrecht im innertschechischen Diskurs als Instrument der Disziplinierung wirkte, mit dem die nationalistischen Hardliner kompromissbereite Kräfte auf Linie bringen konnten. Zudem weist Haslinger überzeugend nach, dass der tschechische nationale Diskurs durchaus vorhandene regionale Sonderdiskurse, die es insbesondere im mährischen Raum gab, zunächst überwölbte und später inkorporierte. Die Frontstellung gegen den deutschen Nationalismus grub der Konkurrenz im eigenen Lager das Wasser ab. Somit stabilisierte, ja zementierte sich der nationale Diskurs im tschechischen und im deutschen Lager wechselseitig.
Haslingers Ansatz hat große Stärken. Sein Modell kann beispielsweise hervorragend erklären, warum in der Ersten Tschechoslowakischen Republik ein echter Ausgleich zwischen Tschechen und Slowaken nicht gelang: Da der tschechische nationale Diskurs so sehr auf das böhmische Staatsrecht fixiert war, blieb darin für die Slowakei und die Slowaken kein Platz. Aus der Perspektive des tschechischen nationalen Diskurses hätte nämlich jedes Entgegenkommen gegenüber den slowakischen Forderungen nach Autonomie die territoriale Integrität des (tschechoslowakischen) Staates und zugleich der (tschechischen) Nation gefährdet, weil damit ein Präzedenzfall geschaffen worden wäre, der den Autonomieforderungen der deutschen Minderheit Tür und Tor geöffnet hätte.
Ein Nachteil des Ansatzes besteht meines Erachtens darin, dass Haslingers Diskursanalyse die Geschichte der böhmischen Länder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Modus der Konfliktgeschichte erzählt, ja im Grunde erzählen muss, nämlich als "Kampf zwischen Tschechen und Deutschen" (so der Titel eines 1928 erschienenen Buches des tschechischen Biologen und Philosophen Emanuel Rádl). Zudem besteht angesichts des Untersuchungszeitraums die Gefahr, dass das Ende dieser Geschichte - je nach Sichtweise entweder die erzwungene Eingliederung zumindest der mehrheitlich deutschbesiedelten Randzonen der Tschechoslowakei in einen deutschen Nationalstaat oder aber die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern - in dieser Perspektive als mehr oder weniger zwangsläufig, ja unausweichlich erscheint. Um einer solchen teleologischen Fehlperzeption vorzubeugen, die nicht im Sinne des Verfassers liegt, wäre eine Ausdehnung des Untersuchungszeitraums auf die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg wünschenswert gewesen, zumal Haslinger selbst andeutet, dass die territorialen Vorstellungen der Nation, die im tschechischen Diskurs bis dahin prägend gewesen waren, auch seinerzeit noch weiter wirkten (433). Doch mit Forderungen nach immer noch mehr und noch mehr tun sich Rezensenten bekanntermaßen viel leichter als Autoren, zumal die Untersuchung ohnehin schon beinahe 60 Jahre umfasst.
Die Einwände schmälern denn auch Haslingers große Leistung nicht. Zu wünschen wäre, dass künftig vergleichbare Studien zu den "imagined territories" im deutschen und im slowakischen, aber auch im polnischen und im ungarischen Diskurs vorgelegt werden, die das Bild vervollständigen. Denjenigen, die sich heute zu derartigen Arbeiten aufmachen, liefert das Buch von Peter Haslinger nicht nur das theoretisch-methodische Rüstzeug, sondern auch einen unverzichtbaren Kompass.
Jaromír Balcar