Sebastian Brünger: Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 15), Göttingen: Wallstein 2017, 452 S., ISBN 978-3-8353-3010-8, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Silke Sobieraj: Die nationale Politik des Bundes der Landwirte in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung zwischen Tschechen und Deutschen (1918-1929), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002
Michael Fröhlich (Hg.): Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt: Primus Verlag 2002
Helene Albers: Zwischen Hof, Haushalt und Familie. Bäuerinnen in Westfalen-Lippe (1920-1960), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001
Das hier zu besprechende Buch verdeutlicht einmal mehr, wieviel auch in der historischen Forschung dem Zufall geschuldet ist. Ursprünglich hatte Sebastian Brünger vor, über das Werk von Günter Grass zu promovieren, das er "als Seismograph der deutschen Geschichtskultur" zu lesen gedachte (410). Seinem Doktorvater Martin Sabrow gelang es jedoch, ihn für ein völlig anderes Thema zu begeistern - eine glückliche Fügung, soviel sei bereits vorweggenommen.
Statt mit Grass befasste sich Brünger mit der Frage, wie deutsche Unternehmen nach 1945 mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen und wie sich dieser Umgang im Lauf der Jahrzehnte veränderte. Grob gesprochen, bewegt sich die diskursanalytisch angelegte Untersuchung damit zwischen den Polen Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur. Brünger geht von der "grundlegenden Hypothese" aus, "dass der Modus der Vergangenheitsbearbeitung vieler Unternehmen, ihre Verhaltens- und Deutungsmuster sich an die geschichtskulturellen Rahmenbedingungen ihrer Zeit angepasst haben und gleichzeitig in die Vergangenheitsdiskurse zurückgewirkt haben" (14). Dementsprechend begreift der Autor Unternehmen nicht nur als Objekte, sondern auch als Akteure des Vergangenheitsdiskurses.
Die Materialbasis der Arbeit besteht, neben einschlägigen Unternehmenspublikationen und der Presseberichterstattung, hauptsächlich aus Akten in deutschen Firmenarchiven. Hinzu kommen staatliche Archive in Deutschland und den Vereinigten Staaten sowie eine Reihe qualitativer Interviews mit Akteuren aus Unternehmen, Politik, Publizistik und Geschichtswissenschaft. Auf dieser Grundlage verfolgt Brünger drei erkenntnisleitende Fragestellungen, die zugleich die Untersuchungsachsen bilden, die im Fazit zusammengeführt werden: Erstens geht es um die Deutungsmuster der Vergangenheit sowie um deren Funktionalisierung für die jeweilige Gegenwart, zweitens um die Narrative und Geschichtsbilder, die die Publikationen der Unternehmen transportierten, und drittens um das Feld der Unternehmensgeschichte, die sich gerade an der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit deutscher Konzerne von der unternehmenseigenen Hofberichterstattung zur akademisch verankerten Subdisziplin mauserte.
Die vier Kapitel folgen der Chronologie, wobei jeweils ein Konzern pars pro toto im Zentrum der Untersuchung steht: Das erste Kapitel befasst sich am Beispiel der IG Farben und einem ihrer Rechtsnachfolger, der Bayer AG, mit dem Selbstbehauptungsversuch deutscher Unternehmen in den Nürnberger Nachfolgeprozessen. Dem Vorwurf der Anklage, dass die deutsche Wirtschaft "eine entscheidende Rolle bei der Planung und Durchführung des gigantischen NS-Eroberungsfeldzuges" gespielt habe (61), setzte die deutsche Wirtschaftselite ein Opfer-Narrativ entgegen: Man sei als ehrbarer Kaufmann oder dem Fortschritt verpflichteter Wissenschaftler gegen seinen Willen in die NS-Kriegswirtschaft gezwungen worden, habe nicht aus eigenem Antrieb daran mitgewirkt und schon gar nicht an den Verbrechen des NS-Regimes, sondern sei im 'Dritten Reich' anständig geblieben. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs konnte sich dieses Narrativ durchsetzen und erhielt mit den milden Urteilen von Nürnberg eine richterliche Beglaubigung durch die (westlichen) Siegermächte. Zudem war es anschlussfähig an den gesamtgesellschaftlichen Opferdiskurs, der sich in der frühen Bundesrepublik herausbildete, was seine lange Wirkungsmacht erklärt.
Im Zentrum des zweiten Kapitels, das den Entlastungsdiskurs der Unternehmen im Zeichen der geschichtskulturellen Veränderungen der 1960er und frühen 1970er Jahre behandelt, steht die Deutsche Bank. Während in der westdeutschen Öffentlichkeit die Fragen nach der Tätigkeit einzelner Personen und Institutionen in der NS-Zeit lauter wurden, beharrten die Konzerne auf ihrem in Nürnberg entwickelten Entlastungsnarrativ. Dabei kam ihnen der Ost-West-Konflikt zugute, denn die antikapitalistisch grundierten Angriffe aus der DDR führten in der Bundesrepublik zu einem Schulterschluss mit in der Kritik stehenden Managern wie Hermann Josef Abs. Zur ideologischen Stoßrichtung der Studie des ostdeutschen Historikers Eberhard Czichon gesellten sich inhaltliche Mängel, die es den Anwälten der Deutschen Bank ermöglichten, juristisch gegen die Vorwürfe vorzugehen. "Zwischen den ideologischen Fronten des Kalten Kriegs war kaum Raum für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Abs' Vergangenheit." (216)
Die 1980er Jahre, die mit dem sogenannten Historikerstreit und den Debatten um die "vergessenen Opfer" der NS-Herrschaft eine "geschichtskulturelle Achsenzeit" (Harald Schmid) darstellten, läuteten einen Paradigmenwechsel deutscher Unternehmen im Umgang mit ihrer NS-Vergangenheit ein, den Brünger mit Blick auf die Daimler-Benz AG beleuchtet. Zur Vorbereitung des anstehenden Konzernjubiläums beauftragte der Autobauer 1982 externe Wissenschaftler mit der Abfassung einer Firmengeschichte - seinerzeit "ein absolutes Novum" und zugleich "ein folgenschwerer PR-Bumerang, weil Inhalt und Form der Darstellung nicht den öffentlichen Erwartungen gerecht wurden bzw. kritische Gegennarrative provozierten" (297). Auf Kritik stieß vor allem, dass das Thema Zwangsarbeit, das seinerzeit immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, in dieser Auftragsarbeit nur ganz am Rande vorkam. Daimler-Benz sah sich zum einen veranlasst, eine zweite Studie zur Zwangsarbeit im Unternehmen in Auftrag zu geben. Zum anderen schritt der Konzern nun zu Pauschalzahlungen an seine ehemaligen Zwangsarbeiter, bezeichnete diese indes als "humanitäre Geste". Eine rechtliche Verantwortung für die Beteiligung an NS-Verbrechen lehnte man damit weiterhin strikt ab.
Das vierte Kapitel behandelt "den sich in den neunziger Jahren durchsetzenden geschichtskulturellen Trend zu einer weitgehend konsensuellen, opferzentrierten Erinnerungskultur und den Aufstieg des Erinnerungsgebots zur identitätsstiftenden Struktur des deutschen Vergangenheitsdiskurses" (40), wobei die Degussa im Fokus steht. Mit Themen wie Raubgold, Zwangsarbeit und "Arisierungen" gerieten die deutschen Unternehmen direkt in die Schusslinie. Der Fall des Eisernen Vorhangs konfrontierte sie darüber hinaus mit neuen Entschädigungsforderungen, diesmal von ehemaligen Zwangsarbeitern aus Osteuropa. Das scharfe juristische Schwert der Sammelklage, das die Konzerne im Zuge ihrer Expansion nach Übersee fürchten lernten, verlieh diesen Forderungen Nachdruck. Die betroffenen Firmen reagierten darauf zweigleisig: Einerseits vergaben sie öffentlichkeitswirksam Aufträge an renommierte Historiker, um Transparenz zu signalisieren und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Andererseits strebten sie Pauschalzahlungen an, um individuelle Ansprüche zu befriedigen und Rechtssicherheit vor weiteren Klagen zu erlangen. "Das Lösungsmodell einer 'Solidaraktion der deutschen Wirtschaft' entkoppelte die symbolischen Zahlungen von konkreten historischen Fakten und tradierte durch die betonte Trennung von juristischer und moralischer Verantwortung das latente Narrativ, letztlich 'im Auftrag des Staates' gehandelt zu haben" (392). Immerhin avancierte die engagierte Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit für einige Unternehmen wie etwa die Degussa dabei zu einem integralen Bestandteil der Unternehmenskultur.
Das Ergebnis der abgewogen argumentierenden Studie, die en passant eine - für deren frühe Protagonisten wenig schmeichelhafte - Geschichte der Unternehmensgeschichtsschreibung in (West-)Deutschland liefert, ist nicht unbedingt ermutigend. Brünger hält fest, "dass die Unternehmen auch die negativen Aspekte ihrer Firmengeschichte so lange präsent halten und zum Bestandteil ihres History Marketing machen werden, wie es sich für sie ökonomisch auszahlt. Und es wird sich für die Unternehmen so lange betriebswirtschaftlich rechnen, wie sie Teil einer vergangenheitszugewandten Gesellschaft und damit einer Geschichtskultur sind, deren prägendes Paradigma die vergangenheitsbewahrende Aufarbeitung ist." (408f.)
Das Buch kann freilich auch als Handlungsanleitung für die Betroffenen gelesen werden. Bereits Ende der 1990er Jahre war dem Vorstand der Deutschen Bank klar geworden, "dass der öffentliche Eindruck einer verheimlichten Geschichte schlimmere Folgen für das Image haben konnte als die Geschichte selbst" (363). Deswegen veröffentlichte die Deutsche Bank - sozusagen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der öffentlichen Meinung - im Frühjahr 1999 brisante interne Dokumente, auf die ihre Archivare aufmerksam geworden waren, bevor unabhängige Forscher sie entdecken und publik machen konnten. Die Erkenntnis, dass Offenheit im Umgang mit der eigenen Vergangenheit die beste Skandalprävention darstellt, hat sich indes längst nicht überall durchgesetzt. So blockten noch kürzlich eine Reihe von international operierenden Logistikunternehmen den Wunsch nach Einsicht in die Firmenarchive ab, ohne damit freilich verhindern zu können, dass ihre wesentliche Rolle bei der Ausplünderung der Juden in Deutschland und Europa publik wurde. Daher sei die gründliche Lektüre der Studie von Sebastian Brünger nicht zuletzt den PR-Abteilungen deutscher Konzerne ans Herz gelegt.
Jaromír Balcar