Jean-Michel Leniaud: Jugendstil in Europa, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, 620 S., ISBN 978-3865-68583-4, EUR 128,00
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Der umfangreiche Band mit einer Vielzahl von ganzseitigen Farbabbildungen versucht, ähnlich wie die Kataloge der Ausstellungen zur "Art Nouveau" (hg. von Paul Greenhalgh, 2000) und zum "International Arts & Crafts Movement" (hg. von Karen Livingstone und Linda Parry, 2005) im Victoria & Albert Museum London, einen Überblick mit einer Diskussion der problematischen Terminologie zu verbinden. Auch die Gliederung, der allerdings nicht konsequent durchgehaltene Wechsel zwischen Darstellungen der künstlerischen Tätigkeit in bestimmten Kunstlandschaften und nach Gewerken zusammengestellten Teilen, ähnelt diesen Publikationen.
Bei Leniaud allerdings werden nur Lampen, Schmiedearbeiten, Möbel, Glasmalerei, Plakate und Schmuck von René Lalique vorgestellt. Warum Fotosammlungen zu den Bereichen Glas, Keramik und Textil fehlen, bleibt ebenso unklar wie auch die plötzliche Konzentration auf einen einzelnen Künstler im Falle Laliques. Im Unterschied zu den genannten Katalogen handelt es sich bei Leniaud auch nur um Abbildungen der Werke ohne weitere Erläuterungen, während bei Greenhalgh die Kunstwerke nach Materialgruppen in eigenen Essays, bei Livingstone und Parry in kürzeren Kapiteln vorgestellt werden. Leniaud schließt nicht nur die angewandten Künste und die Architektur, sondern auch Grafik und Malerei ein, ohne wirklich auf das Problem einer Jugendstilmalerei einzugehen. In der Regel handelt es sich um Arbeiten, die dem Bereich des Symbolismus zugerechnet werden.
Wie auch die Auswahl der genannten Bereiche unklar bleibt, erschließt sich nicht, warum einzelne Kunstlandschaften mit bedeutenden Arbeiten des Jugendstils wie die skandinavischen Länder und Holland keine gesonderte Würdigung erfahren. Die wichtigen und einflussreichen Arbeiten der Kopenhagener Porzellanmanufakturen, von Rörstrand und Rozenburg werden höchstens kurz in der Einleitung erwähnt. Dafür kommt jedoch Italien und den osteuropäischen Ländern große Aufmerksamkeit zu. Amerika und das Œuvre von Louis H. Sullivan, Frank Lloyd Wright, Gustav Stickley und Greene & Greene fehlen hingegen gänzlich. Leniaud erachtet den Jugendstil scheinbar als ein rein europäisches Phänomen.
Die Reihenfolge, nach der die einzelnen Zentren angeordnet sind, wird weder begründet noch erschließt sie sich beim Lesen vollständig. Dass England mit dem Arts & Crafts Movement den Anfang macht, ist traditionell und historisch sinnvoll, wobei in diesem Kapitel dann auch das Aesthetic Movement und der schottische Jugendstil mit einer vergleichsweise äußerst ausführlichen Würdigung der Aktivitäten von Mackintosh und seinem Kreis in Glasgow eingeschlossen werden. Dagegen werden wichtige Architekten wie Charles F. Annelsey Voysey oder Hugh Baillie Scott, dessen Werk dann für den deutschen Jugendstil wichtig wird, nur sehr knapp vorgestellt. Die Reihenfolge Brüssel (mit Bespielen der Wiener Werkstätte im Palais Stoclet), Paris und Nancy wirkt chronologisch schlüssig. Darauf folgen Wien und Prag, Ungarn, Polen und Slowenien, Deutschland mit den Zentren München, Darmstadt, Berlin, Dresden, Weimar und Hagen, Russland, Katalonien und schließlich Italien.
Ansonsten verfährt der Autor nach einem bewährten und durchaus gelungenen Schema für Überblicksdarstellungen für die einzelnen Kunstlandschaften: Nach einer Schilderung der speziellen Ausgangsbedingungen werden die wichtigsten Künstler mit knappen, auf die wesentlichen Angaben beschränkten Informationen zu ihrem künstlerischen Werdegang sowie mit unterschiedlich ausführlichen Darlegungen zu ihrem Werk vorgestellt. Letzteres kann sehr unterschiedlich ausfallen, wobei die Bewertung nach der gewährten Genauigkeit und der Anzahl der vorgestellten Werke nicht immer nachvollziehbar ist.
In der Einleitung verweist Leniaud auf die Problematik der Begrifflichkeit und begründet auf diesem Wege zugleich seine gesamteuropäische Zusammenstellung. Die Überschrift "Der Aufbruch in die Vielfalt" (10) deutet an, dass unter der Bezeichnung "Jugendstil" eine Vielzahl unterschiedlicher Äußerungen zusammengefasst wird. Als verbindendes Motiv nennt Leniaud das Streben nach dem "Neuen", nach einer modernen Kunst.
Weiterhin schildert er die divergenten Einflüsse, die der Jugendstil aufgreift. Dazu zählen in unterschiedlichem Maße Anregungen durch die Kunst der Vergangenheit, Asiens und des Orients sowie der jeweiligen Volkskunst. Als Vorläufer, die eine neue Auffassung der Architektur im Verhältnis von Material, Struktur und Dekoration sowie der Verpflichtung gegenüber der Kunst der Vergangenheit lehrten, werden Viollet-le-Duc und John Ruskin genannt. Als historische Epochen, die Impulse an die Äußerungen de Jugendstils vermittelten, erwähnt Leniaud das Mittelalter und den Barock. Durch die Kunst des Mittelalters sei ein neues Bewusstsein für Material und Verarbeitung, für die Berücksichtigung der Funktion, für die sozialen Aufgaben der Kunst, für das Handwerk im Gegensatz zur Industrialisierung und für die Einheit der Künste geweckt worden. Mit dem Barock teile der Jugendstil die Vorliebe für den Kurvenschwung, das Ornament und die sinnliche Gestaltung, mit der Antike dagegen die Bevorzugung der geraden Linie und die Tendenz zur Geometrisierung. Die Volkskunst wiederum vermittelte eine individuelle Note.
Diese "Dualität" zwischen dem Aufgreifen verbindender überregionaler Motive und einer spezifisch lokal inspirierten Kunst bildet nach Leniaud ein Kennzeichen des Jugendstils (20). Weiterhin charakteristisch wäre eine Neigung zum Zeichenhaften im Gegensatz zum Narrativen und Historischen. Außerdem finden sich sehr knappe Anmerkungen zu den Techniken gerade in Hinblick auf Keramik und Glas, die in der Kürze dennoch die Bedeutung der handwerklichen Qualität in der Kunst des Jugendstils vermitteln. Zusammenfassend definiert Leniaud als Merkmale, welche die unterschiedlichen Äußerungen zusammenfassen, die Abwendung von der akademischen Kunst, die Reflektion über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, die neue subjektive Wahl der Vorbilder und Streben nach Neuem.
Mit Leniauds Buch liegt ein aufwendiger Bildband mit einführenden Texten vor, der eine solide, wenn auch nicht wesentlich neue und von anderen früheren Überblicksdarstellungen grundsätzlich abweichende Informationen vermittelt. Nur selten finden sich schwer nachvollziehbare Behauptungen, so die Feststellung, dass sich Mackmurdo in seinem Stuhl (Abb. auf Seite 39) an Formen des 13. Jahrhunderts orientiere, wenn doch offensichtlich und durch Vergleiche einfach zu belegen ist, dass er sich vielmehr an traditionelle englische Formen des späten 18. Jahrhunderts anschließt. Das Buch erfüllt überzeugend seinen Zweck und ist aufgrund der prächtigen, sich gerne vom schwarzen Grund effektvoll abhebenden qualitätvollen Farbabbildungen eine Augenfreude.
Michaela Braesel