Petra Tücks: Das Darmstädter Neue Palais. Ein fürstlicher Wohnsitz zwischen Historismus und Jugendstil (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; Bd. 148), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2005, 399 S., 31 Farb-, 194 s/w-Abb., ISBN 978-3-88443-302-7, EUR 56,00
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Petra Tücks legt mit ihrer Dissertation "Das Darmstädter Neue Palais. Ein fürstlicher Wohnsitz zwischen Historismus und Jugendstil" die erste umfassende Baumonografie vor, die sie auf die Auswertung unveröffentlichter Quellen stützen kann. Das mehrseitige Inhaltsverzeichnis, das sich in unzählige (teils bis zu 5-stelligen) Untergliederungen aufspaltet und dadurch an Übersichtlichkeit einbüßt, lässt bereits auf eine akribische Darstellung schließen. Im Aufbau traditionell gehalten, schreitet Tücks in einem ersten Teil die üblichen Aspekte von Vor-, Planungs- und Baugeschichte, Bauanalyse sowie die späteren Veränderungen und schließlich die Wiederaufbaupläne der Nachkriegszeit ab. Ein zweiter und dritter Teil ist in ebensolcher Ausführlichkeit Ausstattungsfragen des Historismus und des Jugendstils gewidmet.
Wie Tücks einleitend ausführt, liegen ihren Betrachtungen in erster Linie stilgeschichtliche Aspekte zu Grunde, die sie durch bau- und raumtypologische Fragen erweitern möchte, um auf diese Weise Veränderungen des fürstlichen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert zu reflektieren (17).
Die solide abgefasste Abhandlung zeichnet sich durch das Aufsuchen aller verfügbaren Bild- und Schriftquellen aus, die eingehend zitiert, referiert und in die chronologisch und formanalytisch organisierte Gesamtstruktur eingebracht werden. Als wenig spektakulär gibt sich die Vorgeschichte zu erkennen, die anhand schriftlicher Quellen rekapituliert wird (31-38). Die Architekturbeschreibungen gehorchen einer detailverliebten Bestandsaufnahme, die sich wertender und damit kontextbezogener Ausführungen leider enthalten (45-52). Tiefergreifende Aufschlüsse über die kulturhistorische Bedeutung des Palais als Zeugnis monastischer Gegebenheiten oder über die Einflüsse der englischen Reformbewegung, die auf Grund der familiären Konstellation nahe liegen und damit das Eindringen bürgerlicher Wertvorstellungen in den fürstlichen Bereich dokumentieren könnten (das eigentlich spannende Thema) werden auf diese Weise - obwohl eingangs versprochen - nicht gewonnen. Vielmehr belässt es die Autorin bei generellen Anmerkungen, die über die hinlänglich bekannten Sachverhalte nicht hinausgehen.
In extenso widmet sich Tücks den stilistischen Vorbildern des Baukörpers. Für die architektonischen Glieder kann sie venezianische und römische Palastfassaden ausfindig machen, die Disposition des Baukörpers führt sie auf barocke und klassizistische Prinzipien zurück, um darin die Grundlagen historistischer Entwurfspraxis bestätigt zu finden (52-60). Ungewöhnlich und ungeschickt gewählt ist der Grundriss, der schon zur Planungszeit auf Grund seiner dunklen Räume und der wenig zweckmäßigen Raumabfolge zu scharfer Kritik geführt hatte (64f). Nachweisen kann die Autorin den repräsentativen Anspruch der Anlage, der erkennen lässt, dass das Palais von Anfang an nicht nur als Prinzenpalais, sondern als Residenzpalais Ludwigs vorgesehen war (65f.).
Um den Grundrisstyp bestimmen zu können, führt die Verfasserin zahlreiche Vergleichsbeispiele aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die sie im Einzelnen beschreibt. Hier wäre es zweifelsohne sinnvoller gewesen, lediglich die Ergebnisse ihrer diesbezüglichen Recherchen auszuwerten, als ihre Nachforschungen umfänglich auszubreiten. Derartige Passagen belegen die Gewissenhaftigkeit der Autorin, tragen zum Erkenntnisgewinn jedoch nicht wesentlich bei und sind in der immer gleichen Aufbereitung ermüdend (65-76). So lässt sich als Quintessenz dieses Abschnitts festhalten, dass die Unterbringung der Repräsentationsräume im Erdgeschoss und der Privaträume im ersten Obergeschoss auf englische Vorbilder des Landhausbaus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückgeht, womit das Neue Palais dem Villen- und Landhausbau typologisch näher steht als dem Palastbau. Dieses Phänomen führt die Verfasserin auf die Tendenz der "Verbürgerlichung" zurück, die im 19. Jahrhundert zunehmend eine Trennung von repräsentativen Staatsbauten einerseits und fürstlichen Privatbauten andererseits begünstigte (77f.), doch versäumt sie es, diesen interessanten Gedanken weiter zu verfolgen.
Immer wieder formuliert die Autorin ihre Absicht dahingehend, "den Geschmack der höfischen Ausstattung näher zu definieren und ihn in die allgemeinen historistischen Stilrichtungen einzugliedern" (186), ein Vorsatz, der letzten Endes einer illustrierten Stilfibel gleichkommt, auch wenn abschließend festgestellt wird, dass die Neorenaissance der Ausstattung auf den "deutsch-englischen" Geschmack Prinzessin Alices zurückzuführen ist, womit diese den Stil, den ihre Eltern Königin Viktoria und Prinz Albert pflegten, zur Anwendung brachte (208).
Der dritte Teil der Dissertation, der die Ausstattung des Jugendstils würdigt, geht auf die wichtigen Anregungen durch B. Scott und Ch. R. Ashbee ein. Der Hinweis, dass "Darmstadts Vermittlerrolle für englische Ideen nach Deutschland [...] bisher nur unzureichend gesehen worden" sei, spiegelte 1977, als Hanno-Walter Kruft dies formulierte, den aktuellen Forschungsstand wider (250). Doch fragt sich der Leser, wieso die Autorin nicht auf neuere Literatur zurückgreift. Gerade in den vergangenen zehn Jahren sind hinlänglich Arbeiten zur Reformbewegung der Jahrhundertwende entstanden, die den Einfluss Englands ausführlich thematisieren. [1]
Da eine übergeordnete Fragestellung, jenseits form- und stilgeschichtlicher Aspekte, fehlt, zerfällt die Darstellung in eine minuziöse Bestandsaufnahme: Planungsgeschichte, Beschreibung, Um- und Neubaumaßnahmen, Erfassung sämtlicher größerer Räume einschließlich des gesamten Mobiliars wie Sitzmöbel (etwa II.2.3.2.4.), Arbeitstische, Beleuchtungskörper (etwa II.3.3.3), Betten. Dies verdankt sich offensichtlich der Entdeckerfreude der Autorin in den Archiven. Sicherlich ist diese Dokumentation auch unter restauratorischen Gesichtspunkten zweckmäßig, erfüllt aber eher die Funktion eines (aufwändig gestalteten) Inventars. Wer sich künftig zu Detailfragen des Neuen Palais in Darmstadt Aufschluss verschaffen will oder an vergleichenden Studien interessiert ist, wird sich über diese Abhandlung freuen, da sie immerhin reichhaltiges, vor allem erstmals veröffentlichtes fotografisches Material aus dem Großherzoglichen Familienarchivs der weiteren Forschung zur Verfügung stellt. Wer allerdings eine problemorientierte Abhandlung erwartet, die die bemühten Stillagen zumindest ikonologisch oder semantisch deuten würde, wird leider enttäuscht.
Anmerkung:
[1] Hanno-Walter Kruft: Die Arts-and-Crafts-Bewegung und der deutsche Jugendstil, in: Von Morris zum Bauhaus. Eine Kunst gegründet auf Einfachheit, hg. von Gerhard Bott, Hanau 1977, 27. Zur Reformbewegung vgl. etwa: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Ausstellungskatalog Institut Mathildenhöhe, 2 Bde, Darmstadt 2001.
Sigrid Hofer