Peter Geiss: Der Schatten des Volkes. Benjamin Constant und die Anfänge liberaler Repräsentationskultur im Frankreich der Restaurationszeit 1814-1830 (= Pariser Historische Studien; Bd. 95), München: Oldenbourg 2011, 368 S., ISBN 978-3-486-59704-2, EUR 49,80
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Die französische Restaurationszeit hat in jüngerer Zeit verstärkte Hinwendung durch die Forschung erfahren, weshalb die Studie von Peter Geiss nicht die erste ist, die sich mit dem französischen Publizisten und Politikers Benjamin Constant (1767-1830) befasst, doch das Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, erstmalig und aus zum Teil unveröffentlichtem Quellenmaterial heraus den wechselseitigen Einfluss von Publizität und politischem Wirken dieses so bedeutenden Exponenten des französischen Frühliberalismus erschlossen zu haben. Das Buch, eine überarbeitete Fassung seiner 2002 eingereichten Dissertation, das die Konzeption liberaler Repräsentation in einem frühen Entwicklungsstadium nachzeichnet, tritt daher auch nicht mit dem Anspruch einer reinen Biographie auf, sondern soll als »problemorientierte Studie zur frühliberalen Repräsentationskultur« verstanden werden, in der Constants politischer Lebensweg den roten Faden bildet. Angestrebt ist ein »vertikaler Zugriff auf die Vertretungsproblematik«, die in der Überzeugung des Autors wesentlich über die Erforschung der »vielfältigen Kommunikationsbeziehungen« verständlich wird.
Das Buch teilt sich in drei Hauptabschnitte: einen ideen- und verfassungsgeschichtlichen Teil, der die Genese von Constants Repräsentationskonzept darstellt, dessen Kern die »opinion politique« bildet, die frei zu äußern laut Constant für im Interesse der Beherrschenden wie der Beherrschten liegen müsse; eine Analyse der Bedingungen, unter denen sich politische Öffentlichkeit entfalten konnte; und schließlich das »empirische Herzstück«: eine regional vergleichende Darstellung der Interaktion zwischen Constant und den von ihm vertretenen Departements Sarthe und Bas-Rhin, womit der Autor, wie er selbst hervorhebt, Neuland betritt. Constants Abgeordnetenmandate haben bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit durch die Forschung gefunden als seine politischen Schriften, obgleich es sich in der Tat anbietet, Theorie und Praxis miteinander zu vergleichen. Hierzu stehen hunderte von Briefen aus der Feder Constants zur Verfügung, wie auch umfangreiches Aktenmaterial von Verwaltung, Polizei und Justiz, mit deren Auswertung sich der Verfasser einer beachtlichen Fleißarbeit unterzogen hat.
Dreh und Angelpunkt für Constant war die Einsicht, dass das système représentatif während der Revolutions- und der napoleonischen Zeit eine autoritäre Fehlentwicklung durchlaufen hatte; die uneingeschränkten Übertragungsrechte der Volkssouveränität auf ein Repräsentativorgan sah Constant als Ursache eines neuen Despotismus', den er in Robespierre wie auch in Napoleon, immerhin der Liquidator des jakobinischen Totalitarismus, gleichermaßen verkörpert sah. Die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen der Souveränitätslehre Rousseaus und den »horreurs de Robespierre« hergestellt und herausgearbeitet zu haben, hat schon Isaiah Berlin an Constant bewundert, den er für einen »authentischen Liberalen« hielt (wenngleich Constant den bei Liberalen im allgemeinen unter Totalitarismusverdacht stehenden Begriff des Gemeinwohls nicht gänzlich ablehnte).
Dass es unter Napoleon zur größten Einschränkung der Pressefreiheit gekommen war, die die »Déclaration des Droits« von 1789 garantiert hatten, musste Constant, der während seiner gesamten politischen Karriere Journalist und Mitherausgeber von Zeitschriften war, ein besonderes Ärgernis sein. Als Liberaler fürchtete Constant nichts so sehr wie die Entpolitisierung der Staatsbürger als Vorstufe eines neuen Despotismus - ein Gedanke, an den später Tocqueville anknüpfen sollte. Nachdem er nach dem Staatsstreich Napoleons in das Tribunat aufgenommen wurde, überwarf sich Constant daher schon bald mit der Regierung und wurde ausgeschlossen. In der Folgezeit verfasste Constant bis 1806 u. a. zwei Manuskripte, von denen sich eines mit der Verwirklichung einer stabilen Republik in einem großen Flächenstaat beschäftigte. Gerne hätte der Rezensent gewusst, ob hier ein Einfluss des deutschen Historikers August Ludwig v. Schlözer vorgelegen haben mag, der ab 1770 eine Professur in Göttingen innehatte, wo er bis zu seinem Tode 1809 aktiv war. Den großen Flächenstaaten kam in Schlözers Denken eine herausragende Bedeutung zu und wie später bei Constant, der der deutschen Sprache mächtig war und nach 1802 an der Göttinger Bibliothek Studien trieb, gehörten Freiheit und Privatbesitz für Schlözer unauflösbar zusammen.
Mit der Julirevolution von 1830 und der Etablierung der Julimonarchie unter Louis-Philippe bekam Constant erneut Gelegenheit zu politischer Gestaltung. Zu seinen originären Ideen gehört es, ein viertes Element in die Gewaltenteilung eingeführt zu haben, nämlich die königliche oder neutrale Macht (»pouvoir neutre«), die als solche - und hierin sich stark unterscheidend von Napoleon - eben kein Repräsentant der französischen Nation sein sollte. Constant hatte denn auch das Prinzip durchsetzen können, dass Monarch und Volk auf gleicher Augenhöhe (»Il respectera nos droits car il tiendra de nous les siens«) agieren sollen.
Ihren besonderen Reiz entfaltet Geiss' Studie vor allem in der Beschreibung von Constants politischem Wirken im westlichen Frankreich. Dieses musste vor dem Hintergrund, dass die Region dem übrigen Frankreich in seiner politischen Entwicklung weitgehend fremd geblieben war, eine besondere Herausforderung bedeuten. Ein Wahlfälschungsverdacht führte dazu, dass Contant eine Attacke auf Innenminister und Departementsverwaltung ritt, wie er es überhaupt verstand, sich Gegner zu machen. In der aufgeheizten Atmosphäre vor den Wahlen von 1822 nahm die juristische Verfolgung der Liberalen zu, als Gemeinden »liberale Umtriebe« zu melden hatten, worüber Präfektenberichte über liberale Oppositionelle Aufschluss geben.
Eine besondere Facette in der Biographie Constants ist der Umstand, dass er über beide Elternteile dem hugenottischen Protestantismus verbunden war, womit er, so der Autor, ein herausragendes Beispiel für die Behauptung Jean-Jacques Coulmanns abgibt, dass es eine weltanschauliche Nähe zwischen Protestantismus und Liberalismus gebe. Dafür spricht nicht nur das fortschrittliche Wirken so vieler Hugenotten innerhalb und außerhalb Frankreichs wofür Namen wie Pierre Bayle und Jacques Basnage stehen. Auch war Frankreich nachhaltig vom Calvinismus geprägt. Geiss weist darauf hin, dass auf jeden Fall ein numerischer Zusammenhang kaum geleugnet werden kann, denn Constants städtische Anhängerschaft in Strassburg war, trotz katholischer Bevölkerungsmehrheit, stark protestantisch geprägt.
Das Buch ist beileibe nicht nur für Historiker von Interesse, sondern auch für Politikwissenschaftler mag es manche Lektion bereithalten. Der methodische Ansatz überzeugt und die Auswertung ungedruckten Archivmaterials dürfte zusätzlich Maßstäbe gesetzt haben, sodass dem Rezensenten nur noch bleibt, dem Buch eine große Leserschaft zu wünschen.
Michael Kreutz