Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914-1939, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 1085 S., ISBN 978-3-506-76373-0, EUR 98,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Verfasser dieser umfangreichen Studie hat sich vorgenommen, die gegenseitigen Kontakte zwischen Deutschen und Ukrainern zu untersuchen; seine Schilderung beginnt am Vorabend des Ersten Weltkriegs und schließt mit dem Zerfall des polnischen Staates im Herbst 1939. Ein solches Vorhaben birgt zahlreiche methodische Probleme in sich, die Frank Golczewski auch bewusst sind. So lässt sich eine solche Geschichte räumlich schwer eingrenzen: Den ukrainischen Staat hatte es in der besprochenen Zeit nicht beziehungsweise nur für eine sehr kurze Zeit gegeben. Von Bedeutung war die - in vielen Ländern verstreute - ukrainische Emigration. Schließlich urteilte die bisherige Historiografie zu diesem Thema, vor allem die ukrainische, aber auch die sowjetische und die polnische, nicht selten parteiisch.
In Bezug auf die theoretische Untermauerung seiner Arbeit zeigt sich der Verfasser sparsam. Jenseits einer "orthodoxe[n] intensive[n] Diskursanalyse" gehe es ihm vor allem darum, aus den Quellen "das Sagbare" herauszufinden (10). Zu diesen zählt er unter anderem die ukrainische Publizistik und die Historiografie, die die besprochene Problematik ex post aufgriffen. Dabei unternahmen die beiden Gattungen nicht selten Versuche, das Geschehene neu zu bewerten beziehungsweise umzuinterpretieren.
Golczewski distanziert sich von der Annahme, der Historiker solle ein Richter sein; eine solche Position wird häufiger insbesondere in Zusammenhang mit der Kollaboration der Ukrainer mit dem Nationalsozialismus vor und während des Zweiten Weltkriegs eingenommen. Gerade diese Distanz, verbunden mit der Bereitschaft, die ukrainischen Stimmen breit zu Wort kommen zu lassen, bildet eine der Stärken dieses Buches. Eingebettet wird die Darstellung, insbesondere die ukrainische Ideengeschichte (zum Beispiel der sogenannte "turn to the right" [1] in den 1920er Jahren), in die zentralen Entwicklungslinien Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Eine der wichtigsten Thesen des Verfassers lautet, dass sich die deutschen Verhaltensmuster in Bezug auf die ukrainische Problematik während des Ersten Weltkriegs herausbildeten. Zu ihnen gehörte die Annahme, dass die Ukraine einen Faktor darstelle, der sich gegen Russland beziehungsweise die Sowjetunion einerseits und Polen andererseits einsetzen lasse. Auch die - wie Golczewski mit Recht betont - falsche Überzeugung von der Ukraine als einem ökonomisch hochinteressanten Gebiet entstand in dieser Zeit und gehörte bis in den Zweiten Weltkrieg hinein zu einem festen Bestandteil des deutschen Denkens.
Das Bemühen, die ukrainische Position zu Wort kommen zu lassen, ist insbesondere bei der Darstellung des Petljura-Mordes sichtbar und fruchtbar. Der ehemalige Anführer der Ukrainischen Volksrepublik und Sozialdemokrat Symon Petljura wurde im Mai 1926 in Paris durch einen aus Russland stammenden Juden erschossen. Ob das Attentat im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes vollzogen wurde, ist für Golczewski "unbewiesen, aber naheliegend" (493). Der für die Tat als Begründung angegebene Antisemitismus Petljuras, insbesondere seine Verantwortung für Pogrome in der Ukraine in den Jahren 1919-1920, hält der Verfasser für "unsinnig" (ebenda). Gravierend waren die Folgen des Attentats und des Gerichtsverfahrens: Die Tatsache, dass es sich bei dem Attentäter um einen Juden handelte, führte bei den Ukrainern zu einer Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus. Dass ein französisches Gericht den Attentäter freigesprochen hatte, zerstörte bei ihnen das Vertrauen in die Demokratie. Die Folge war das Aufblühen des ukrainischen Nationalismus und des Antisemitismus sowie die Renationalisierung der eigenen Geschichte (496).
Viel Platz nimmt in der Darstellung die Frage ein, ob die ukrainischen Nationalisten der 1930er Jahre Faschisten waren (571-592). Bekanntlich wird die Erforschung dieses Problems dadurch erschwert, dass zwischen dem autochthonen Faschismus und der Nachahmung faschistischer Vorbilder in Ostmitteleuropa kaum exakt zu unterscheiden ist. Der Verfasser kommt zu der Überzeugung, dass es unwesentlich sei, "ob jemand kopiert hat und wer wen". Ausschlaggebend waren bei den Ukrainern politisches Kalkül, das Fehlen einer Alternative sowie das positive Verhältnis zu autoritären und totalitären Ideologien. Die konkreten Vorstellungen von einem künftigen ukrainischen Staat waren denen der italienischen Faschisten sehr ähnlich (578 f.).
Gründlich räumt der Golczewski mit der durch manche ukrainische Historiker vertretenen Position auf, die Ukrainer hätten nicht mit dem Nationalsozialismus, sondern nur mit einflussreichen Nationalsozialisten kooperiert. Die jeweiligen Gesprächs- und Kooperationspartner seien nichts anderes als Vertreter des NS-Staates gewesen; ihre unterschiedlichen Positionen haben ausschließlich aus dem Bemühen resultiert, die nationalsozialistische Politik zu optimieren (602, 675). Den Wendepunkt im deutschen Umgang mit der ukrainischen Problematik setzt der Verfasser mit der Jahreswende 1937/1938 an. Seitdem bemühten sich die deutschen Stellen, sich für den geplanten Krieg in Osteuropa der Ukrainer zu versichern und jene, die in Deutschland wirkten, möglichst gleichzuschalten.
Umfangreich wird in der Arbeit die Frage der Karpatho-Ukraine dargestellt. Dieser östlichste Bereich der Tschechoslowakei, der zum Teil von ukrainischer Bevölkerung bewohnt war, beschäftigte Ende 1938 und Anfang 1939 die Aufmerksamkeit vieler europäischer Regierungen. Minutiös rekonstruiert der Verfasser die deutsche Position und den deutsch-ukrainischen Austausch. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer sorgfältig geschriebenen "Zwischenbilanz 1939", die auch problemlos separat gelesen werden kann.
Zusammenfassend hebt Golczewski charakteristische Merkmale der deutsch-ukrainischen Beziehungen in den Jahren 1914-1939 hervor. So sahen die Deutschen in der Allianz mit den Ukrainern eine Option von vielen. Im Gegensatz dazu ließen sich die Ukrainer mit den Deutschen ein, weil sie sonst keine Möglichkeit sahen, ihr Ziel - die Gründung eines eigenen Staates - zu erreichen (1021).
Einige Kritikpunkte sind anzumerken. Erstens wäre eine redaktionelle Trennung der relevanten von weniger wichtigen Themen in einigen Fällen ratsam gewesen. Zweitens werden wichtige Arbeiten durch den Verfasser nicht berücksichtigt. Dies betrifft, um nur ein Beispiel zu nennen, die Werke von Timothy D. Snyder, dessen Name im Buch kein einziges Mal erwähnt wird. Beunruhigend wirkt die pauschalisierende Beurteilung mancher Historiografien: So ist die Behauptung, die polnischen Autoren versuchten "immer", das deutsch-polnische Einvernehmen der 1930er Jahre zu "minimieren" (742), nicht haltbar. Mit der Äußerung, die nationalsozialistische Außenpolitik sei nicht "so schlüssig [gewesen], wie [...] osteuropäische Historiker manchmal annehmen" (838), kann der Rezensent nichts anfangen.
Ungeachtet dieser Kleinigkeiten: Es handelt sich um ein lesenswertes und quellengesättigtes Buch, das die ukrainischen Akteure gebührend präsentiert und viele in der bisherigen Historiografie vorhandenen Urteile korrigiert.
Anmerkung:
[1] Alexander J. Motyl: The Turn to the Right. The Ideological Origins and Development of Ukrainian Nationalism, 1919-1929 (= East European Monographs, 65), New York 1980.
Bernard Wiaderny