Gesa zur Nieden: Vom Grand Spectacle zur Great Season. Das Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption (1862-1914) (= Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 6), München: Oldenbourg 2010, 432 S., ISBN 978-3-486-59238-2, EUR 49,80
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Gegenstand dieser Studie ist das Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Unterhaltung von seiner Eröffnung 1862 bis zu seiner zeitweiligen Schließung 1914. Die Musikologin Gesa zur Nieden untersucht die politischen, architektonischen sowie technischen Rahmenbedingungen, die auf die Produktion wie auch die Rezeption musikalischer Ereignisse einwirkten. Zu diesem Zweck bedient sich die Autorin der Architektursoziologie, die ihr zweierlei ermöglicht: Zum einen betrachtet sie die Theaterarchitektur als Ausdruck kultureller und politischer Vorstellungen, die die Wahrnehmung und Nutzung des Raumes gewissermaßen vorgab. Andererseits erörtert sie, wie sich diese Wahrnehmung durch die Umgestaltung des Innenraums sowie die Interaktion zwischen Bühne und Saal bei jeder neuen Musikaufführung veränderte und somit eine neue, erlebnisbedingte Architektur schaffte.
Methodisch orientiert sich Gesa zur Nieden an dem Interaktionsmodell der Theaterwissenschaftlerin Mercedes Viale Ferrero, um symbolische, gesellschaftlich-politische und moralische Bedeutungsebenen herauszuarbeiten, die sich aufgrund der Einteilung in Bühne und Saal, der Platzierung des Publikums sowie des Innendekors oder des Eintrittspreises ergaben.
Von dieser Herangehensweise ausgehend, konzentriert sich die Autorin im 1. Kapitel auf die zwischen 1857 und 1862 angesiedelte Planung und Errichtung des Théâtre du Châtelet. Dabei gilt ihr Interesse der Frage, welche urbanistischen Konzepte und politisch-moralischen Intentionen hinter der Planung des neuen Theaters standen und wie diese umgesetzt wurden. Im Zuge der Haussmannisierung Paris' unter Napoleon III. wirkten vier Entscheidungsinstanzen maßgeblich beim Theaterentwurf mit: der Seine-Präfekt Georges Eugène Haussmann, der Staatsminister, die Architekten - allen voran Gabriel Davioud - sowie der künftige Theaterdirektor Hippolyte Hostein. Die ursprüngliche Absicht bestand in der Schaffung eines Unterhaltungsraums, der an die Stelle der reichlich verrufenen Theater des Boulevard du Temple treten sollte, einer Spielstätte also, die das Bedürfnis nach politischer und moralischer Kontrolle der Pariser Unterhaltungsszene zu befriedigen hatte. Die Monumentalität und die Symmetrie des Theaters und ebenso seine Lage gegenüber Napoleons Siegessäule auf dem Place du Châtelet dienten nicht zuletzt der Selbstdarstellung des Zweiten Kaiserreichs und der Huldigung an das Erste. Die enorme Sitzkapazität wie auch die symmetrische Anordnung von Bühne und Saal gewährte sowohl die Einbeziehung breiter sozialer Schichten als auch die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Darstellern bzw. Musikern und Zuhörern.
Der architektursoziologischen Analyse des Theaters folgen drei Kapitel, in denen die konkreten musikalischen Ereignisse von 1862 bis 1914, ihre Produktion und Rezeption zu Protagonisten werden. Diese unterteilt Gesa zur Nieden in drei Hauptgenres: die populären "grands spectacles" (2. Kapitel), die Militärspektakel und Feerie umfassten, die klassischen, aber auch avantgardistischen Konzerte des Dirigenten Edouard Colonne (3. Kapitel), die mondän und sensationell ausgestattete "great season" (4. Kapitel), die mit symphonischen Konzerten, Opern und Ballettséancen gefüllt war. Deren Schilderung und Auswertung vollzieht sich - wie es im ersten Kapitel hinsichtlich der Theaterarchitektur der Fall war - nicht aus traditionell-theaterhistorischer Sicht, sondern geht vielmehr von einer räumlich-inszenatorischen Perspektive aus. Genauer gesagt: Die musikalischen Ereignisse sowie ihre Rezeption arbeitet Gesa zur Nieden anhand der inszenatorischen Gestaltung des Theaterraums heraus. Das wesentlichste Raumelement, die Symmetrie zwischen Bühne und Saal, sieht sie für die Publikumswahrnehmung der jeweiligen musikalischen Aufführungen verantwortlich. Die an die Pariser Zirkusarchitektur erinnernde Gegenüberstellung zweier Halbkreise sorgte für die Interaktion mit dem Publikum und gleichzeitig für dessen fiktionale Einbindung. Das Genre "grand spectacle" verhalf mittels einer harmonischen Musik, die eine ABA-Bogenstruktur aufwies, zu dieser Einbeziehung. Auch der Dirigent Edouard Colonne griff für seine Konzerte auf die kreisförmige Aufstellung des Orchesters zurück, wodurch eine mitreißende Wirkung erzielt werden sollte. Einen weiteren Schritt hin zur Interaktion zwischen Darstellern und Zuhörern unternahm der Impresario Gabriel Astruc: Bei der Generalprobe der Ballets russes im Jahr 1909 reihte er im Saal halbkreisförmig Tänzerinnen auf und ließ sie so in die Rolle des Publikums schlüpfen. Einer der wichtigsten Effekte dieser räumlichen Inszenierung - die sich stark dem Volks- und Zirkustheater verpflichtet sah - und der beachtlichen Sitzkapazität war die Popularisierung ernster Musikgattungen, wie z. B. die der symphonischen Musik.
Nach der Lektüre dieser drei Kapitel stellt sich jedoch eine grundlegende heuristische Frage: Sind die innere Geometrie sowie die Größe und die Repräsentativität des Theaters - sprich die räumlich-architektonischen Elemente - tatsächlich die ausschlaggebenden Faktoren, die eine entsprechende Publikumsrezeption oder den Publikumserfolg zu erklären vermögen, wie die Autorin es behauptet? Die opulente Rekonstruktion dieser musikalischen Ereignisse, die Gesa zur Nieden vorlegt, scheint ihre eigene - das Buch strukturierende - Ausgangsthese abzuschwächen. Ihre detailreiche Analyse der Auswahl der Unterhaltungsgenres oder der aufzuführenden Musikstücke durch die Theaterdirektoren, die ökonomischen Gründe und der Bedarf an Subventionen, die dabei eine Rolle spielten, die Preispolitik, die Werbekampagnen sowie die Pressereaktionen lassen den räumlichen Faktor eigentlich als einen von vielen erscheinen. Des Weiteren mag es an diesem starken Ansatz liegen, dass die Autorin gewisse Fragestellungen zwar angesprochen, aber nicht ausgelotet hat. So ist etwa die Frage aufzuwerfen, aus welchen Gründen in bestimmten Momenten überwiegend französische statt ausländische - vor allem deutsche - Autoren Aufnahme ins Repertoire fanden. Die finanzielle Unterstützung französischer Nachwuchskomponisten zu Beginn der 1870er Jahre (Choudens, Roger, Buisson, Bériot, aber auch Berlioz) wird hier nicht als ein aus dem Deutsch-Französischen Krieg resultierendes Politikum ausgelotet. Ebenso wenig wird das national-patriotische Gefühl dieser Jahre in die Betrachtungen einbezogen. Gerade diese Aspekte würden die Wahrnehmung bzw. den Erfolg dieser Komponisten zusätzlich verdeutlichen.
Diese Kritikpunkte sollen die Verdienste der Arbeit, das Pariser Musikleben am Théâtre du Châtelet aus origineller Sicht neu beleuchtet zu haben, nicht schmälern. Die große Detailfülle, die zahlreichen bibliographischen Angaben sowie die benutzten und im Anhang teilweise abgedruckten Materialien machen dieses Buch zu einer lesenswerten und informativen Lektüre.
Lisa Regazzoni