Birgit Dalbajewa (Hg.): Neue Sachlichkeit in Dresden. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Galerie Neue Meister, Dresden: Sandstein Verlag 2011, 351 S., 440 meist farb. Abb., ISBN 978-3-942422-57-4, EUR 48,00
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Die Malerei der Neuen Sachlichkeit und einige ihrer Protagonisten wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz, aber auch weniger bedeutende Figuren wie Franz Radziwill erfreuen sich zur Zeit mit Recht einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen wird der künstlerische Rang dieser Maler angesichts ihrer zum Teil komplexen Bezugnahmen immer deutlicher und überstrahlt inzwischen fast den der Expressionisten. Diese sind einem Massenpublikum zwar immer noch zugänglicher, aber gerade in krisenhaften Zeiten gewinnen die Positionen der Weimarer Republik eine mitunter erschreckende Aktualität. Zudem kommt einer realistisch-sachlichen Malerei der Zwischenkriegszeit nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten eine konstitutive Bedeutung für ein nicht mehr rein westliches Verständnis der modernen Kunstentwicklung zu. Auch dies wird zunehmend deutlich. Das aktuelle Interesse verteilt sich gleichermaßen auf den Bereich des Museums wie den der akademischen Forschung und mitunter gehen beide eine glückliche Synthese ein. Neben anderen hat die Gerda Henkel Stiftung das wissenschaftliche Projekt und die Ausstellung Neue Sachlichkeit in Dresden gefördert, die noch bis zum 8.1.2012 in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen und zu der ein umfangreicher Katalog erschienen ist. Damit ist ein lange bestehendes Desiderat bearbeitet worden.
Es gehört zu den Charakteristika der Neuen Sachlichkeit, dass sich die Richtung spätestens nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, dem Leerlaufen des Dadaismus und einer allmählich einsetzenden wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung an zahlreichen Orten parallel herausbildete und gleichermaßen zum Massenstil wie zur Avantgarde der Weimarer Republik avancierte. Gerade der Blick auf eine historisch bedeutsame Kunstmetropole mit einer traditionsreichen Kunstakademie als Ausbildungszentrum und die Rekonstruktion der herrschenden kunstpolitischen Rahmenbedingungen kann diesen bemerkenswerten Sachverhalt der Spannung zwischen Avantgarde und Massenstil, der der Kunstgeschichte der Moderne als kaum theoretisierbar schon immer schwer verdaulich im Magen lag, weiter klären. Andere wichtige lokale Zentren wie Hannover und Karlsruhe sind inzwischen durch wichtige Ausstellungen aufgearbeitet und dargestellt worden. [1] Dresden ist diesen neusachlichen Metropolen nun endlich angemessen an die Seite gestellt.
Ein Ausgangspunkt für Ausstellung und Katalog war die Tatsache, dass mit Otto Dix eine überragende Zentralfigur der Neuen Sachlichkeit in Dresden ausgebildet wurde und seit 1927 - nach Stationen in Düsseldorf und Berlin - als Akademielehrer auch schulbildend tätig war. Ein zweiter Anlass war die Tatsache, dass die berühmte, 1925 von Gustav Friedrich Hartlaub in Mannheim konzipierte Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit auf einer ihrer anschließenden Stationen auch in Dresden gezeigt wurde. George Grosz, der dort vor dem Ersten Weltkrieg studiert hatte, dann aber in Berlin ansässig ist, wird jetzt in Dresden mit zwei seiner bedeutendsten Gemälde, der Graue Tag (1921) und das Porträt Max Herrmann-Neißes (1925), die auch in der historischen Ausstellung im Spätherbst 1925 in Dresden zu sehen waren, prominent vertreten. Allerdings spielte Grosz in der Stadt in den 1920er-Jahren höchstens als Berliner Dadaist eine indirekte Rolle, etwa wenn Otto Dix sich mit seinen großformatigen Dada-Malereien bewusst von ihm abheben und ihn übertrumpfen wollte. Auch Franz Radziwill, der Dix in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre Dresden besuchte, ist mit zwei hervorragenden Bildern in der Ausstellung vertreten, die damals gefundene Motive in magisch-realistischer Weise zeigen. Grosz und Radziwill sind hier hervorzuheben, weil sie auf ein zentrales Charakteristikum der Neuen Sachlichkeit in Dresden verweisen: die dominierende Stellung von Otto Dix. Sie wird gerade auch an Grosz und Radziwill deutlich, die in der Ausstellung alleine qualitativ in seiner Nähe, nicht aber im Zentrum der Neuen Sachlichkeit in Dresden stehen. Die Dresdner Otto Griebel, Hans Grundig und Curt Querner sind sicher bemerkenswerte Künstler und sollten im Osten Deutschlands nach 1945 wieder eine Rolle spielen, fallen aber in der Ausstellung im Vergleich zu Dix, Grosz und Radziwill deutlich ab.
Der Katalog vereinigt eine umfassende Zusammenstellung von Bildern, Werkbetrachtungen und Künstlerbiografien und ist allein aufgrund seines Materialreichtums unverzichtbar. Birgit Dalbajewa und ihr Team haben einen vorzüglich bebilderten und recherchierten Katalog erarbeitet, der nebenbei eine Geschichte Dresdens und der Weimarer Republik liefert. Er ist eine wichtige Grundlage jeder zukünftigen Gesamtschau auf das Phänomen Neue Sachlichkeit und kann bereits jetzt als Standardwerk gelten. Die zahlreichen Aufsätze decken alle relevanten Fragestellungen zur Neuen Sachlichkeit unter Berücksichtigung der jüngsten Forschungen ab. So geht es zwar immer um den engeren Dresdner Kontext, es lassen sich aber doch allgemeine Perspektiven gewinnen und Vergleiche anstellen. Insbesondere die neusachliche Wende zu Beginn der 1920er-Jahre, die Frage der Altmeisterrezeption in der Neuen Sachlichkeit und deren mitunter problematisches Verhältnis zum "Dritten Reich" werden im Katalog behandelt. Wenn allerdings die "überhöhte Wirklichkeit" der Kunst um 1900 als zentrale Voraussetzung für die Neue Sachlichkeit reklamiert wird, dann ist das einerseits zutreffend - Franz Roh hatte ja in den 1920er-Jahren bereits auf die wichtige Position Karl Haiders verwiesen - birgt aber auch Probleme. Die mitunter sehr andere Temperatur und Faktur der neusachlichen Bilder, wenn man in stilistischer Hinsicht idealtypisch argumentieren will, sticht ins Auge. Zudem sind neusachliche Bilder oft völlig anders, konstruktiv gebaut, zeigt sich eine Bildtektonik, die Kenntnisse des Konstruktivismus voraussetzt. Zudem verdeutlichen auch Maria Körbers Ausführungen zur neusachlichen Maltechnik, dass die Künstler in dieser Hinsicht aufgrund neuerer zeitgenössischer maltechnischer Thesen weit hinter die Kunst um 1900 zurückspringen und ihr spezifischer Einsatz der Maltechnik sich anderen Zielsetzungen verdankt als dem Wirken ihrer Lehrer. Gerade die Differenz zeitgleicher, um 1925 entstandener Bilder von Otto Müller und Otto Dix belegt das in der Ausstellung anschaulich. Insgesamt eine wichtige, lange überfällige Überblicksschau und ein äußerst verdienstvolles, bild- und materialreiches Katalogbuch.
Anmerkung:
[1] Vgl. Ausst.kat. "Der stärkste Ausdruck unserer Tage". Neue Sachlichkeit in Hannover, Sprengel Museum Hannover 2001/02 und Ausst.kat. Die 20er Jahre in Karlsruhe, Städtische Galerie Karlsruhe 2005/06.
Olaf Peters