Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung (= Metabasis; Bd. 5), Bielefeld: transcript 2011, 366 S., ISBN 978-3-8376-1404-6, EUR 29,80
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Der Spatial Turn ist inzwischen nicht mehr nur als ein Appendix des Iconic Turn zu betrachten, sondern hat sich mit einer eigenen Diskursplattform innerhalb der Medien- und Kulturwissenschaften etabliert. In raum-zeitlichen Umbruchphasen wie dem heutigen digitalen Zeitalter sind Fragen nach der Konstruktion und Wahrnehmung von Raum für eine weitere existentielle Orientierung von zentraler Bedeutung. In dem vorliegenden Sammelband, herausgegeben von Gertrud Lehnert als Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam mit Schwerpunkt auf der Raum- und Emotionsforschung, wird mit 19 Beiträgen von Fachleuten aus der Kultur-, Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaft dem Zusammenhang von Raum und Gefühl nachgegangen.
Gertrud Lehnert betont in der Einleitung, dass alle Autoren des Bandes ein "dynamisches Raumkonzept" voraussetzen, d.h., dass Raum weder als absolut gegeben noch als reines Wahrnehmungskonzept verstanden wird, sondern vielmehr als ein durch Bewegung, Wahrnehmung sowie soziales und symbolisches Handeln von Menschen hervorgebrachtes Phänomen. Demzufolge sei Raum auch nicht nur im konkret-materiellen Sinn zu interpretieren, sondern darüber hinaus als Raumvorstellung (10). Die Bezugnahme zum Gefühl ergibt sich über die Raumempfindung, die in jeder Raumwahrnehmung enthalten ist. Lehnert zitiert hier u.a. Hermann Schmitz' Ausführungen zum "Gefühlsraum", in denen er Gefühle als "räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären" beschreibt [1], sowie Gernot Böhmes Untersuchungen zur Atmosphäre [2] als einer Aura des Raumes, die im Zusammenwirken zwischen ausstrahlendem Objekt und empfindendem Subjekt entstehen kann (15).
Der Band ist in fünf Themenbereiche aufgeteilt. Im ersten Teil "Wahrnehmung, Raum, Gefühl" werden die grundsätzlichen Konzepte von Raum, Gefühl und den in diesem Zusammenhang produzierten Effekten diskutiert. Exemplarisch steht hier der Beitrag des Medienwissenschaftlers Dieter Mersch zu den fraktalen Räumen der digitalen Welt, in der der Mensch sich immer mehr aufzuhalten beginne, als "reinen Topologien mit simultaner Gegenwärtigkeit", bei der das Verhältnis zum Raum destabilisiert und durch andere, "unklare Tiefendimensionen" ersetzt wird (55). Diese Räume sind nicht im Sinne von Michel Foucaults "Heterotopien" Gegenraum-Modelle, sondern vielmehr zersplitterte Zwischenräume, die eigentlich nicht zu bewohnen sind, in denen wir uns aber zeitweilig und in medialer Dimension bewegen (58). Schließlich bleibe nur noch das multifunktionale Handy als "stabile Traum-Zeit-Stelle", die die menschliche Lokalität definiere (60).
Der zweite und dritte Teil zu "Die Räume und die Künste" und "Urbane Räume" enthalten weiterhin Aufsätze zu architektonischen sowie bildkünstlerischen Fragestellungen und seien deshalb hier hervorgehoben. Als für den architektonisch-urbanen Raumbegriff relevant ist der Beitrag von Laura Bieger zu erwähnen, die am Beispiel von real-fiktionaler Erlebnisarchitektur wie dem Strip von Las Vegas oder dem Washingtoner Regierungsviertel das ästhetische Prinzip der Immersion und seiner Instrumentalisierung in Räumen der Kultur und des Konsums demonstriert. [3] Sie wertet die manipulative Einflussnahme immersiver Räume jedoch nicht grundsätzlich als negativ, sondern fordert vielmehr eine Beschäftigung mit diesem Raumempfinden, um dazu eine kritisch sensibilisierte Haltung einnehmen zu können. Als Übungsterrain für solche emotionalen Erlebnisräume führt Bieger zeitgenössische Rauminstallationen wie z.B. solche des Künstlers Gregor Schneider ("Die Familie Schneider - At Home", 2004) an (91).
In einer historischen Perspektive widmen sich gleich zwei Beiträge dem Typus des Warenhauses als neuer Baugattung um 1900, deren Räume und Schaufenster die Waren in entsprechender Manier in Szene setzten. Gertrud Lehnert nähert sich der Thematik in Verbindung mit der speziellen Architektur des Hotels über die literarische Verarbeitung u.a. bei Emil Zolas "Au bonheur des dames", 1882 und Vicky Baums "Menschen im Hotel", 1929 an. Sie fasst das durch die Warenhäuser und Hotels neu entstehende Raumerleben unter den Begriffen "Einsamkeiten" (im Hotel) und "Räusche" (Kaufrausch) zusammen (151). Uwe Lindemann untersucht das Schaufenster um 1900 als kulturellen Faktor, der ein neues Verhältnis zwischen Verkäufer und Käufer und zwischen Ware und Käufer hervorgerufen hat und als "kulturelle Gefahr", da es mit seiner schönen Schein-Welt Menschen verführe (189).
Die letzten beiden Teile des Sammelbandes sind mit "Räume Schreiben" und "Literarische Räume" betitelt und beinhalten ausschließlich Beiträge zu literaturwissenschaftlichen Themen wie z.B. dem Buch als "labyrinthischem Raum" (Monika Schmitz-Emans) oder dem Grenzraum "als literarischer Landschaft" in Raoul Schrotts Novelle "Die Wüste Lop Nor" (Ines Theilen).
Insgesamt liegt mit diesem interdisziplinären Sammelband zum Thema des Wechselverhältnisses zwischen Raum und Gefühl eine weitere wichtige Publikation zur Untersuchung und Auseinandersetzung mit den kulturwissenschaftlichen Bedingungen des Spatial Turns in seinen vielen Facetten vor. Der dabei eventuell entstehende Eindruck der Heterogenität ist in diesem Kontext durchaus angebracht und sogar wünschenswert.
Anmerkungen:
[1] Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band 3: Der Raum. Der Gefühlsraum, Bonn 1969 / 1981; Hermann Schmitz: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hgg. von Claudia Benthien / Anne Fleig / Ingrid Kaste, Köln 2000, 42-59.
[2] Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995; Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2006.
[3] Laura Bieger: Ästhetik der Immersion: Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007.
Stefanie Lieb