György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2011, 288 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-61340-1, EUR 19,95
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György Dalos gehörte zu den führenden Köpfen der Dissidentenszene im kadaristischen Ungarn und zugleich zu den besten Kennern Russlands im ehemaligen Ostblock. Aufgrund dieser beiden Voraussetzungen konnte er eine Gorbačev-Biographie verfassen, die sich von der Mehrzahl der Bücher über den ersten und letzten Präsidenten der UdSSR erheblich abhebt. Von den westlichen Gorbačev-Biographen unterscheidet ihn die Tatsache, dass er das kommunistische Regime, das Gorbačev mit seinem Verzweiflungsakt retten wollte, aus eigener Erfahrung kennt. Aber er ist nicht nur ein Insider, sondern auch ein Outsider. Denn im Gegensatz zu solchen russischen Autoren wie Andrej Gračev oder Anatolij Černjaev, die mehrere Abhandlungen über Gorbačev verfassten, beobachtete Dalos den Kremlchef nicht vom imperialen Zentrum aus, sondern aus der ungarischen Peripherie. Er konnte sich bei seiner Analyse z. B. auf die Erfahrung des antikommunistischen Aufstandes von 1956 in Ungarn stützen, die den russischen Gorbačev-Biographen fehlte.
Dalos beginnt seine Biographie mit einem Prolog. Darin schildert er das dramatische Ende der politischen Karriere Gorbačevs, also den Putsch vom August 1991 und die Internierung des sowjetischen Präsidenten auf der Krim. Aber Dalos schreibt, dass "die Geschichte keinen Gestürzten kennt, der nicht zum eigenem Untergang [...] ein bisschen selbst beigetragen hätte" (18). Und das betrifft natürlich auch Gorbačev. Auch er hat zu seinem Sturz wesentlich beigetragen. Denn gestürzt wurde er von seinen engsten Mitarbeitern, die er zuvor gefördert hatte. Die führende Riege der Putschisten bestand mehr oder weniger aus der gesamten Führung der damaligen Sowjetunion. Fast alle Minister, der Ministerpräsident, der Vizepräsident, und auch die Führung der kommunistischen Partei, die Leitung des Obersten Sowjets usw. haben sich an diesem Putsch beteiligt.
Dem spektakulären Sturz Gorbačevs ging ein spektakulärer Aufstieg voraus. Und diesen Aufstieg schildert Dalos minutiös, eben den Aufstieg eines Provinzlers, der 1950 mit 19 Jahren nach Moskau kommt, um dort an der Moskauer Staatsuniversität zu studieren. Die Karriere Gorbačevs unterschied sich allerdings kaum von den Karrieren anderer Sowjetfunktionäre. Viele von ihnen waren Provinzler, die sich danach sehnten, ins Zentrum der Macht zu gelangen, und aufgrund ihrer enormen Anpassungsfähigkeit steile Karrieren machen konnten. Bis zum Beginn der 1980er Jahre entdeckt man keine Besonderheiten in der Laufbahn Gorbačevs. Dies war im Wesentlichen die Karriere eines angepassten Parteifunktionärs. Was ihn allerdings von den anderen Mitgliedern der damaligen sowjetischen Führungsriege unterschied, war vor allem sein Alter. Er war etwa 20 Jahre jünger als die Mehrheit der Politbüromitglieder. Abgesehen davon zeichnete er sich, im Gegensatz zu den herrschenden Gerontokraten, durch seine Geschmeidigkeit aus. Er konnte, anders als z. B. Brežnev, frei sprechen. Er musste bei öffentlichen Reden nicht jedes Wort von einem Zettel ablesen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Eigenschaften wurde er zum Hoffnungsträger der Partei. Dalos schildert diesen Aufstieg Gorbačevs in den Kapiteln "Agonie und Hoffnung" und "Der Aufbruch": "Die moralische Erosion der herrschenden Elite drohte mit dem Auseinanderfallen des Staatsgefüges einherzugehen. Denen, die in der Öffentlichkeit und im Machtbereich diese Situation verfolgen konnten, blieb nur noch eine Art Wunderglaube [...] Um aus der Unheil verkündenden Sackgasse [...] herauszukommen, waren nicht so sehr gravierende Zugeständnisse notwendig, sondern einfach ein Mann mit Mimik, charmantem Lächeln, schnellen und geistreichen Repliken. In diesem Sinne hätte man den ehemaligen Parteichef der Region Stawropol, wenn es ihn nicht schon gegeben hätte, geradezu erfinden müssen." (54, 63)
Dann beschreibt Dalos die erste Phase der Perestrojka mit ihrer Antialkoholkampagne und mit den beschwörenden Appellen an die Bevölkerung, disziplinierter und effizienter zu arbeiten. Diese Appelle hätten aber zu nichts geführt. Man konnte die sowjetische Bevölkerung nicht durch irgendwelche Appelle dazu animieren, das marode System, an dessen Werte niemand glaubte, zu erneuern. Und dann gab es eine Art Zäsur, und zwar die Katastrophe im Atomreaktor von Černobyl'(April 1986), die das Ausmaß der Zerrüttung des Systems anschaulich versinnbildlichte. Dies war ein Wendepunkt in der Geschichte der Perestrojka. Dalos schreibt: "Es war eine Art Jüngstes Gericht." (93) Erst danach begann sich die Perestrojka mit einem neuen Inhalt zu füllen und eine Eigendynamik zu entwickeln. Dazu zählte der revolutionäre Entschluss Gorbačevs, an die Bevölkerung direkt zu appellieren. Sie sollte auf den reformunwilligen Parteiapparat Druck ausüben, damit er den Reformen zustimmt.
Die Rolle Gorbačevs in diesem Prozess, der sich seiner Kontrolle allmählich entzog, war, wie Dalos mit Recht hervorhebt, sehr ambivalent. Er war der Motor und Bremser zugleich. Einerseits versuchte er, die immer mutiger werdenden Journalisten vor den Repressalien der in Panik geratenen Parteidogmatiker zu schützen. Aber auf der anderen Seite bemühte er sich darum, Boris El'cin, der zum Sinnbild des konsequenten Reformers wurde, in seine Schranken zu weisen. Ebenso ambivalent war auch Gorbačevs Haltung zur Frage des Erhalts der Sowjetunion. Er hat nicht allzu viel gegen die Bestrafungsaktionen der sowjetischen Dogmatiker im Südkaukasus oder im Baltikum unternommen, die dort versuchten, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen. Aber von einer massiven Bestrafungsaktion, wie z. B. 1956 in Ungarn, hat er immer Abstand genommen. Er ließ eine massive Zerstörung seines eigenen Werkes nicht zu.
Diese zweideutige Politik führte schließlich dazu, dass Gorbačev sowohl von den konsequenten Reformern als auch von den Dogmatikern fallengelassen wurde. Seine Macht zerbröckelte. In der Parteiführung war er seit dem Rücktritt seiner letzten Mitstreiter wie etwa Eduard Ševardnadze weitgehend isoliert. Die Reformer sahen nun in El'cin ihren neuen Hoffnungsträger. Richard Nixon sagte damals: "Die Sowjetunion ist Gorbačevs inzwischen müde." (261)
Nun fragt man sich aber, wieso dieser Politiker, der so gut wie keine Machtbasis mehr besaß, imstande war, eine der größten Revolutionen in der Geschichte der Neuzeit auszulösen? Diese beispiellose Leistung Gorbačevs kann man auf zwei Momente zurückführen, die Dalos auch anführt. Er stützt sich dabei zunächst auf die Aussage von Hans-Magnus Enzensberger, der die osteuropäischen Politiker, welche die friedliche Revolution von 1989 praktisch zugelassen haben, als die "Helden des Rückzugs" bezeichnete. Dalos übernimmt diese Definition, geht aber noch weiter, indem er Gorbačev einen "wahren Napoleon des Rückzugs" nennt. (275) Er sei siegreich von Niederlage zu Niederlage marschiert. Aber dies allein hätte eine solche Revolution, wie sie 1989-1991 stattfand, natürlich nicht ermöglichen können. Mit Rückzug allein lässt sich diese Umwälzung nicht erklären. Und hier kommen wir zu einer zweiten Erklärung für den Erfolg des letzten Präsidenten der Sowjetunion. Dalos stützt sich dabei auf die Worte von Gorbačev selbst, der sagt, es sei ihm eine Zeitlang gelungen, das "Monster zu zügeln". (253) Damit meint er die dogmatischen Kräfte im Parteiapparat der Sowjetunion. Das war vielleicht seine größte Leistung. Es gelang ihm, den unausweichlichen Putsch, der kommen musste, zu verzögern.
Das Buch enthält, neben aufschlussreichen Thesen und vielen luziden Bemerkungen auch umstrittene Passagen, die nicht zuletzt damit zu tun haben, dass Dalos sich allzu stark mit seinem Helden identifiziert und manche seiner Sichtweisen übernimmt, so z. B. die Gorbačevsche Bewertung der Person Boris El'cins. El'cin wird von Dalos, ähnlich wie von Gorbačev, als ein "unausgeglichener, alkoholkranker Mann mit chronisch beleidigtem Ehrgeiz" charakterisiert. (238) Dadurch unterschätzt Dalos die historische Bedeutung, die El'cin in den entscheidenden Phasen der Perestrojka besaß. Ohne die Entschlossenheit El'cins, sich den Putschisten vom August 1991 in den Weg zu stellen, hätten die Parteidogmatiker, die damals immer noch alle Machthebel im Staate beinahe unangefochten kontrollierten, ihre demokratischen Widersacher sicherlich bezwungen. Die wehrlosen Demokraten brauchten eine Identifikationsfigur, die den Wagemut und die Überzeugung von der eigenen moralischen Überlegenheit verkörperte. Und dies konnte nur El'cin sein. Dem russischen Staatspräsidenten standen zwar so gut wie keine eigenen Streitkräfte zur Verfügung, es handelte sich bei ihm allerdings um den einzigen demokratisch legitimierten Herrscher Russlands, der seine legitimatorische Überlegenheit dazu nutzte, die Urheber des Staatsstreichs als Usurpatoren darzustellen. In seiner Anordnung Nr. 59 vom 20. August beschuldigte El'cin die Putschisten, ein "verfassungswidriges Komplott" geschmiedet und ein "Verbrechen gegen den Staat" verübt zu haben. [1] Und diese Einschätzung des Staatsstreiches wurde von den Anführern des Putsches wohl geteilt. Sie fühlten sich nun, anders als ihre Vorgänger von 1917, nicht als "Sieger", sondern als "Verlierer" der Geschichte. In der Auseinandersetzung zwischen Macht und Moral, die das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt Russlands nun verkörperte, erwies sich die letztere als überlegener Sieger.
Nur dem entschlossenen Vorgehen El'cins im August 1991 verdankte Gorbačev die Rückkehr aus seinem Internierungsort Foros nach Moskau. Seine politische Karriere war allerdings untrennbar mit der Partei verbunden, die er nach außen repräsentierte und die letztendlich gegen ihn putschte. Ohne diese Partei, die El'cin einige Wochen nach dem Putsch verbot, verlor Gorbačev jegliche Machtbasis und wurde zu einem "Fürsten ohne Land".
Abschließend noch einige Sätze zur Auflösung der Sowjetunion, die Michail Gorbačev, aber auch sein Biograph, als eine Art Willkürakt El'cins betrachtet. Das Treffen El'cins mit dem Präsidenten der Ukraine und dem Parlamentspräsidenten von Weißrussland, auf dem die Auflösung der UdSSR beschlossen wurde, erinnert Dalos in gewisser Weise an das Vorgehen der Putschisten vom August 1991. (270) Diese Sichtweise unterschätzt indes die Tatsache, dass das Sowjetreich keine Chance hatte, die nach dem August-Putsch völlig diskreditierte KPdSU zu überleben. Denn die Sowjetunion konnte nur auf der Basis der Ideologie des proletarischen Internationalismus existieren, die die KPdSU verkörperte. Die Ausschaltung der KPdSU wurde zum Todesurteil für die UdSSR, denn dadurch verschwand die wichtigste weltanschauliche und organisatorische Klammer, die die Union bis dahin gehabt hatte.
Anmerkung:
[1] Rudolf Pichoja: Sovetskij Sojuz. Istorija vlasti 1945-1991, Moskau 1998. 668 f.
Leonid Luks