Sebastian Kühn: Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700 (= Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung; Bd. 10), Göttingen: V&R unipress 2011, 362 S., 6 Abb., ISBN 978-3-89971-836-2, EUR 49,90
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Bei der Beschäftigung mit der Wissenschaftsgeschichte ist seit einiger Zeit das Bestreben zu verfolgen, weniger die Person des Wissenschaftlers und die Ergebnisse seiner Forschungen ins Blickfeld zu nehmen, sondern die Prozesse des Wissenserwerbs und der Wissenserweiterung. Damit in Verbindung steht eine Hinwendung zum sozialen Umfeld, in dessen Rahmen sich der jeweilige Wissenschaftler bewegte. Zu diesen Themenkreisen ist in den vergangenen Jahren eine Reihe von Untersuchungen vorgelegt worden [1], in die auch das vorliegende Buch, die überarbeitete Fassung einer 2009 der Freien Universität Berlin vorgelegten Dissertation, einzuordnen ist. Es geht dem Verfasser darum, "die Bedingungen der Möglichkeit von Wissen historisch zu untersuchen" (17). Nicht den Ergebnissen der gelehrten Tätigkeit gilt die Aufmerksamkeit, sondern den "ganz banalen und praktischen Vorgängen", die zum Erwerb neuen Wissens führten.
Mit Wissen ist hier ausschließlich naturwissenschaftliches Wissen einschließlich der Medizin gemeint. Eine weitere Einschränkung bedeutet die Konzentration auf die wissenschaftlichen Akademien als Stätten der Forschung, konkret die Akademien in Berlin, London und Paris zwischen 1670 und 1730. Dabei wird der postulierte Unterschied zwischen den Kulturen der Gelehrsamkeit innerhalb der Akademien und innerhalb anderer Institutionen, wobei zuerst an die Universitäten zu denken ist, nicht hinreichend deutlich. Lediglich im Kapitel "'Salomons Haus' - die korporativen Arbeitsökonomien der Akademien" kommen die Spezifika gelehrter Gesellschaften pointiert zur Darstellung. Auch erscheint die Einbeziehung der Berliner Sozietät nicht unbedingt als glücklich. Ihre Gründung erfolgte erst 1700, mit ihrer Arbeit begann sie eigentlich erst 1710, und unter König Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) spielte sie eine eher traurige Rolle.
Das Buch gliedert sich, abgesehen von Einleitung und Schlussbetrachtung, in zwei umfangreiche thematische Blöcke. Im ersten geht es um "Wissenschaft als Arbeit", im zweiten um "Wissenschaft als Freundschaft". Bei allem Bestreben, immer wieder zentrale theoriehaltige Aussagen zu formulieren, ist die Darstellung empirisch stark unterfüttert. Immerhin insgesamt 24 Einrichtungen aus fünf Ländern mit ihren Handschriftenbeständen wurden berücksichtigt, von den gedruckten Quellen nicht zu reden. Gleichgültig, ob man den Thesen des Autors zustimmen möchte oder nicht, ist der Band mit Gewinn zu lesen; er bietet Informationen und Anregungen, die dankbar entgegenzunehmen sind.
Die Überschrift des ersten Oberthemas "Wissenschaft als Arbeit" impliziert schon die Kernaussage: Wissenschaft ist im Wesentlichen Handwerk. Wie in den zeitgenössischen Handwerksbetrieben ist auch in der Wissenschaft das "ganze Haus" beteiligt - Ehefrau, Kinder, Diener usw. Die Arbeit erfolgt unter ganz und gar ökonomischen Gesichtspunkten; Tausch und Kauf sind hier die zentralen Begrifflichkeiten. Vor allem der Tausch bildet für Kühn den Blutkreislauf wissenschaftlichen Arbeitens. Der Gelehrte tauscht mit anderen Gelehrten Informationen und Materialien der unterschiedlichsten Art. Die von gemeinsamen Feiern begleiteten Zusammenkünfte von Gelehrten sind gleichsam große Tauschbörsen, aber auch die Akademien werden als "Tauschgemeinschaften" definiert (66). Selbst die Beziehungen zu den Mäzenen der Akademie basieren auf dem Ritus des Tauschens - materielle Besitztümer gegen Loben und Rühmen.
Neben dem Tausch steht der Kauf, aber nicht immer wird klar, wo die Grenze zu ziehen ist; der Autor selbst räumt das mehrfach ein. So kann die Subskription auf dem Buchmarkt meines Erachtens ebenso als Tausch passieren wie als Kauf. Die von Kühn konstatierte "radikale Unterscheidung" zwischen dem Kauf als bloße Veräußerung eines Produktes, dessen Herstellungsverfahren verheimlicht wird, und dem Tausch als eine dem Gemeinwohl dienende Handlung ist nur schwer zu akzeptieren (81). Ein Beispiel: Johann Christoph Gottsched kauft bei einem gelehrten Instrumentenbauer Modelle des kopernikanischen Weltbildes, wobei die Herstellung genau ausgehandelt wird. Dann verkauft Gottsched die Modelle an andere Gelehrte, die sie in der Lehre verwenden. Wo ist da der angebliche "radikale Unterschied" zwischen Tausch und Kauf? Offenkundig hat bei der ganzen Theoriebildung Marcel Mauss' Buch über die als magisch-religiöse Zeremonie verstandene Gabe (Essai sur le don) Pate gestanden. Der Rezensent will den heuristischen Wert eines solchen Herangehens nicht in Frage stellen, möchte aber bezweifeln, ob damit tatsächlich der Generalschlüssel zur Erklärung der "banalen und praktischen Vorgänge" der Wissensproduktion gefunden worden ist.
Bei der Beurteilung der von Kühn immer wieder unterstrichenen Feststellung, der gesamte Haushalt eines Gelehrten sei an der Wissensproduktion beteiligt gewesen, steht der Rezensent vor der Schwierigkeit, dass er eher mit den Praktiken der Geisteswissenschaften vertraut ist. Hier könnte ich Kühns These keinesfalls unterschreiben, auch wenn es natürlich entsprechende Beispiele des "Familienbetriebs" gibt. Bei den Naturwissenschaften mögen die Dinge etwas anders liegen, nur ist gerade bei dieser Frage die Quellengrundlage eher schmal. In der Hauptsache wiederholt der Verfasser von Fall zu Fall immer wieder den Hinweis auf den Astronomen Gottfried Kirch, in dessen Haushalt tatsächlich Frau und Kinder wissenschaftlich tätig waren. [2] Ansonsten fallen die Mitteilungen zu jenem Thema zu spärlich aus, um die weitreichenden Aussagen des Verfassers hinreichend abstützen zu können. Freilich ist die Quellenlage außerordentlich kompliziert.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Wissenschaft als Freundschaft, wobei implizit gleichzeitig die Feindschaft gemeint ist. Auch die Freundschaft kann und muss nach Kühn zuerst (wenn auch nicht allein) als Tauschbeziehung betrachtet werden (168). Hier möchte es der Rezensent eher mit Kant halten: "Die Freundschaft kann also nicht eine auf wechselseitigen Vorteil abgezweckte Verbindung, sondern diese muß rein moralisch sein, und der Beistand [...] muß nicht als Zweck und Bestimmungsgrund zu derselben [...] gemeint sein." [3] Natürlich ist das eine idealtypische Definition, aber sie enthält eine überzeitlich gültige Grundaussage zum Phänomen der Freundschaft. Wieder ein Beispiel: Samuel Pufendorf und Christian Thomasius sind freundschaftlich verbunden, was sich gewiss auch in Tauschhandlungen niederschlägt, aber sich nicht darauf beschränkt. Man fühlt sich gemeinsamen Vorstellungen und Werten verpflichtet, derer man sich, wieder Kant, "in wechselseitiger Eröffnung" versichert. Vielleicht ist nach Meinung des Verfassers aber auch das als Tauschbeziehung zu verstehen. Im Übrigen wurde nach Darstellung Kühns die Gelehrtenrepublik weniger durch Freundschaften als weit mehr durch Feindschaften geprägt. In der Tat ist die Liste der Gelehrtenstreitigkeiten der Frühen Neuzeit lang. Der Autor zeichnet eine Reihe solcher Konflikte ausführlich nach. Das nimmt man dankbar entgegen; weniger einverstanden ist wenigstens der Rezensent mit der These, den Kern all dieser Auseinandersetzungen bildeten nur scheinbar inhaltliche Differenzen; vielmehr habe in Wirklichkeit die Nichtbeachtung oder gar die Verletzung der Freundschaftsreglungen zum Streit geführt. Nicht das gemeinsame Vertreten oder Verwerfen einer Ansicht führe die Wissenschaftler zusammen, sondern die Parteienbildung: Mein Feind X ist auch Feind von Y, also werde ich ein Freund von Y sein, gleich worum es geht. Niemand wird bezweifeln, dass persönliche Animositäten eine wichtige Rolle gespielt haben. Im Kern aber geht es doch nicht um Beliebigkeiten, sondern um den Anspruch auf Besitz der einzig gültigen Wahrheit. Dass hier die theologischen Streitigkeiten eine Vorbildrolle besitzen, ist von Martin Gierl vor Jahren überzeugend hervorgehoben worden. [4]
Als Fazit lässt sich festhalten, dass wir es bei Sebastian Kühns Buch mit einem wichtigen Werk zu tun haben, das die Forschungen zum Alltag des wissenschaftlichen Lebens und Produzierens in der Frühen Neuzeit wesentlich voranbringt. Jedoch überziehen die (gleichwohl sehr überdenkenswerten) Thesen sichtlich den Bogen und müssen sich daher der Kritik unterziehen lassen.
Eine Bemerkung möchte sich der Rezensent noch erlauben. Auf dem wissenschaftlichen Büchermarkt ist seit einiger Zeit bei nicht wenigen Verlagen die Tendenz zu verfolgen, die ästhetischen und handwerklichen Ansprüche an die äußere Gestalt der Bücher immer weiter zurückzufahren. Schutzumschläge gibt es kaum noch, und an die Stelle von Leinenbänden treten eher lieblos gestaltete Pappbände. Auch das vorliegende Buch ist unter diese Kategorie zu rechnen. Würde dieser Qualitätsrückgang durch eine günstigere Preisgestaltung kompensiert, könnte sich der Käufer notgedrungen mit diesem Zustand arrangieren. Aber das ist bekanntlich nicht der Fall.
Anmerkungen:
[1] Beispielsweise Alf Lüdtke / Reiner Prass (Hgg.): Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008.
[2] Nach den Darlegungen von Klaus-Dieter Herbst (Klaus-Dieter Herbst: Wer half dem Astronomen Gottfried Kirch? In: Klaus Hentschel [Hg.]: Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten, Mechanikern, Zeichnern u.a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit, Diepholz u.a. 2008, 51-68) war jedoch keines der Familienmitglieder in der Lage, mehr als gewisse Hilfsdienste zu erweisen. Auch aus der Sicht der Zeit sei niemand von ihnen mehr als ein Amateur gewesen. Das relativiert Kühns Hauptbeispiel.
[3] Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, Ethische Elementarlehre, § 46, Riga 1785. Kühn weist eine ähnliche Definition Kants ausdrücklich zurück.
[4] Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaften am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997, vor allem 21-188.
Detlef Döring