Marcus Spangenberg / Sacha Wiedenmann (Hgg.): 1886. Bayern und die Schlösser König Ludwigs II. aus der Sicht von Hugues Krafft, Regensburg: Schnell & Steiner 2011, 156 S., 17 Farb-, 45 s/w-Abb.; zweisprachig: deutsch - französisch, ISBN 978-3-7954-2470-1, EUR 19,95
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Am 13. Juni 1886 fand König Ludwig II. von Bayern (geb. 1845) unter bis heute ungeklärten Umständen im Starnberger See den Tod. Drei Tage zuvor war der König unter Hinweis auf sein "schweres Leiden", das ihn an "der Ausübung der Regierung" hindere, per "Bekanntmachung" entmachtet worden. Der König galt als unheilbar geisteskrank. Die Ereignisse um den 13. Juni herum waren der traurige Höhepunkt einer Auseinandersetzung innerhalb der Familie Wittelsbach sowie zwischen dem König und der bayerischen Staatsregierung. Diese entzündete sich vor allem an der unbändigen Baulust Ludwigs II., die allein seinen privaten Interessen entsprang. Der König war durchaus seinen Regierungsgeschäften nachgekommen, hatte sich aber schon seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt und pflegte auch keinen direkten Kontakt mit den Ministern seiner Regierung. Zudem häufte er beträchtlich Schulden an, die in erster Linie das Haus Wittelsbach - nicht das Königreich Bayern - in den Ruin zu treiben drohten.
Ludwig II. war ein hochsensibler Mensch, dem die politischen Geschehnisse seiner Zeit, wie der Deutsche Krieg von 1866 und der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 mit ihren negativen Folgen für sein Königreich schwer zugesetzt hatten. Zudem konnte er sich nur widerwillig mit seiner Rolle als König in einer konstitutionellen Monarchie, die das Königreich Bayern darstellte, anfreunden. Große Anziehungskraft übten deshalb die mittelalterlichen Mythen, wie sie in den Opernwelten seines Zeitgenossen Richard Wagners auflebten, und die Zeit der französischen Könige von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. auf ihn aus. Deren (vermeintliche) uneingeschränkte Souveränität entsprach seinem Herrschaftsverständnis, das aber in einer von liberalen Kräften geprägten bayerischen Regierung mehr als unzeitgemäß gelten musste.
Mit großem Aufwand schuf sich König Ludwig II. Rückzugsorte, in denen er seine Vorstellungswelten realisieren ließ und die ihm allein vorbehalten waren. So entstanden bei Füssen oberhalb von Schloss Hohenschwangau die "Neue Burg Hohenschwangau" - die Bezeichnung Schloss Neuschwanstein kam erst nach dem Tod des Königs auf -, im nahe gelegenen Graswangtal das Schloss Linderhof und auf der Herreninsel im Chiemsee Schloss Herrenchiemsee. Hinzu trat der Ausbau der Residenz in München, das königliche Jagdhaus am Schachen oberhalb von Garmisch-Partenkirchen und Planungen für weitere Bauten, wie die nie realisierte Burg Falkenstein. Alle diese Bauten waren mit ihrer reichen Ausstattung ganz im Sinne Ludwigs II. realisiert worden, der auf jedes noch so kleine Detail - und seien es beispielsweise Türbeschläge - persönlich Einfluss genommen hatte.
Es lag deshalb aus Sicht der bayerischen Staatsregierung und des Regenten Prinz Luitpold von Bayern, des Onkels von Ludwig, nahe, die "Königsschlösser" der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einerseits konnte man mit diesem Schritt den ins Kraut schießenden Gerüchten über die bis dahin unzugänglichen Bauten entgegenwirken, andererseits aber zeigen, welch ("kranken") Geistes Kind der abgesetzte König gewesen war. Die ablehnende Haltung in Teilen der Bevölkerung gegenüber Ludwig II. war nämlich durch seinen überraschenden und letztlich unwürdigen Tod ins Gegenteil umgeschlagen. Man machte die Regierung und den Prinzregenten für die tragischen Ereignisse verantwortlich. Auch die internationale Presse verfolgte die Geschehnisse in Bayern aufmerksam.
Am 1. August 1886 wurden die drei Schlösser Neuschwanstein, Linderhof und Herrenchiemsee offiziell zur Besichtigung freigegeben. Damit begann eine touristische Erfolgsgeschichte, die nun bereits seit 125 Jahren andauert. Anders als von den Verantwortlichen gedacht, waren die Reaktionen der Besucher überwiegend positiv und der Strom derjenigen, die mit eigenen Augen sehen wollten, was der "Märchenkönig" sich geschaffen hatte, nahm stetig zu. Alle drei Objekte waren verkehrstechnisch gut erschlossen, was ihren Bau ja auch erst möglich gemacht hatte, und nun die Besichtigungswilligen leicht ihrem Ziel entgegenbrachten. Die nationale und internationale Presse berichtete ausführlich über die Königsschlösser und ihr Staunen erregendes Erscheinungsbild.
Auf diesem Wege erfuhr auch der Franzose Hugues Krafft (1853-1935), dessen Familie deutsche Wurzeln hatte, von dem Hype um die Bauten Ludwigs II. Krafft war durch ein reiches Erbe finanziell unabhängig und hatte zahlreiche Reisen unternommen, darunter Anfang der 1880er-Jahre eine 17-monatige Weltreise. Kraffts Nachlass befindet sich heute in seiner Heimatstadt Reims. Aus diesem publiziert der vorliegende Band erstmals einige der von Krafft selbst angefertigten Fotografien der Königsschlösser, die er im September 1886 ausführlich besichtigt hatte. Von dieser Reise berichtete er in der Ausgabe der Zeitschrift "Le Tour du Mond" vom 2. April 1887 unter der Überschrift "Voyage aux châteaux favoris du roi Louis II de Bavière: Neu-Schwanstein, Linderhof, Herrenchiemsee".
Das Buch stellt dem Originaltext eine elegante deutsche Übersetzung gegenüber. Hinzu kommen die Fotografien Kraffts, denen jeweils Aufnahmen der aktuellen Situation zugeordnet sind. Desweiteren gibt Marcus Spangenberg einen kundigen Überblick zu "Ludwig II. von Bayern und seine[n] Schlösser[n]", während Alain Cottez pointiert Hugues Krafft als "Weltbürger" vorstellt.
Die Publikation ist im 125. Todesjahr Ludwigs II. erschienen. Nachdem der kunst- und bauhistorische Wert der Königsschlösser als herausragende Beispiele des Historismus inzwischen durchaus anerkannt ist, bemühten sich die Aktivitäten des Jubiläumsjahres vor allem um eine Einordnung der Persönlichkeit Ludwigs II. in seine Zeit und damit um eine schrittweise Entzauberung des "Märchenkönigs". [1] In diesem Sinne ist der Text von Krafft ein wichtiges Dokument, da er zeigt, dass die Zeitgenossen die herausragende Qualität der Bauten erkannten und die Absichten des Königs als weniger verschroben ansahen, als man später zu unterstellen meinte. So formulierte eine "treue Untertanin" gegenüber Krafft, der ihre Meinung jedoch nicht uneingeschränkt teilte: "Was wirft man ihm denn vor? Die hohen Ausgaben, weil er seinem Kunstgeschmack freien Lauf ließ? Aber es war doch sein eigenes Vermögen und hat er nicht unsterbliche Werke geschaffen? Dass er lieber allein und zurückgezogen leben wollte? Vielen Herrschern könnte man weitaus Schlimmeres vorwerfen." (42)
Der Text von Krafft ist gespickt mit interessanten Beobachtungen und Details, die zusammen mit dem Fotomaterial, das jedoch nur Außenaufnahmen zeigt, einen hervorragenden Eindruck vom Zustand der Königsschlösser im Jahr 1886 geben. Der Verfasser zeigt sich äußerst kundig, wenn er beispielsweise den Sängersaal auf Schloss Neuschwanstein mit dem "historischen Saal auf der Wartburg" (33) in Verbindung setzt. Diese Formulierung ist insoweit bemerkenswert, dass Krafft, wie übrigens auch Ludwig II., den damals aktuellen Zustand der Wartburg als historisch ansah, obgleich dieser eine nur unwesentlich ältere Neuschöpfung als der Sängersaal auf Schloss Neuschwanstein darstellte.
Die Öffnung der Königsschlösser war 1886 noch sehr provisorisch organisiert, scheint aber - mit Einschränkungen - funktioniert zu haben. Krafft mokiert sich über das gastronomische Angebot im Weiler Hohenschwangau ("[...] in den niedrigen Räumen servierte man letztendlich nur Variationen ein und desselben Gerichts: Fleisch mit Kartoffelsalat und Bier." (17)) und die nicht ausreichenden Übernachtungsmöglichkeiten in Linderhof ("Sollte jemand auf die Idee kommen, hier auch nur eine Nacht bleiben zu wollen - nun das wird schwierig" (49)). Die drei von Krafft ausführlich besichtigten Schlossanlagen sind erkennbar unfertig, was er mehrfach betont. Dies gilt vor allem für Neuschwanstein und für Herrenchiemsee. Bei letzterem stört den französischen Besucher der unfertige Nordflügel, der später dann auch niedergelegt wurde. Als Franzosen beeindruckte ihn selbstredend die intensive und kundige Rezeption französischer Kunst, Kultur und Geschichte. Seine Fotos dokumentieren auch die kurz danach verschwundenen, kunstvoll gestalteten Holzspaliere im Garten von Schloss Herrenchiemsee, die den See den Blicken des Königs entzogen. Es sind gerade solche Details, die den großen Wert der vorliegenden Publikation für die weitere Forschung ausmachen.
Der Verlag hat für eine durchdachte Gestaltung des Buches und eine hervorragende Reproduktionsqualität der historischen Fotografien wie der aktuellen Aufnahmen gesorgt. Durch das Förderprogramm des französischen Außenministeriums wurde die durchgehende deutsch-französische Zweisprachigkeit ermöglicht - ganz im Sinne der europäischen Bedeutung Ludwigs II. für den Historismus.
Anmerkung:
[1] Peter Wolf u.a. (Hgg.): Götterdämmerung. König Ludwig II. Aufsätze und Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2011, Schloss Herrenchiemsee, 2 Bde., Augsburg 2011. Siehe auch: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 74, 2011, Heft 2, das dem Thema "König Ludwig II. von Bayern. Krankheit, Krise und Entmachtung" gewidmet ist.
Guido von Büren