Matthias Blum: »Ich wäre ein Judenfeind?«. Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik (= Beiträge zur Historischen Bildungsforschung; Bd. 42), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, IX + 257 S., ISBN 978-3-412-20600-0, EUR 34,90
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Befördert durch das rasche Voranschreiten der Kritischen Gesamtausgabe, hat die Schleiermacher-Forschung in den letzten drei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. Dabei ist vor allem an die früher nur von einzelnen Autoren erreichte Differenziertheit und Materialbeherrschung zu denken, die heute die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem großen Protagonisten der modernen protestantischen Theologie prägt. Die Erschließung des literarischen Gesamtwerkes und die - noch unabgeschlossene - Präsentation des kompletten Briefwechsels haben eine Situation geschaffen, von der Generationen älterer Theologie- und Philosophiehistoriker nicht zu träumen gewagt haben.
Das auf seiner Habilitationsschrift beruhende Buch des katholischen Theologen und Erziehungswissenschaftlers Matthias Blum ist ein Beleg für den Wandel, der sich hier vollzogen hat. Sein von Verengungen freier, durch und durch sachkundiger Zugriff versetzt ihn in die Lage, ein schwieriges und lange Zeit geradezu tabuisiertes Thema in aller nötigen Stringenz zu verhandeln. Denn noch bis in die 1990er Jahre waren die theologischen Modernisierer vor allem bestrebt, den Klassikerrang Schleiermachers unter Beweis zu stellen. Konnte sich die Wiederanknüpfung an ihn auf den offenkundigen Einfluss stützen, den er in Theologie, Philosophie, Pädagogik und Klassischer Philologie entfaltet hatte, so musste dabei aber doch immer auch mit den Regungen des alten Antiliberalismus in Theologie und Kirche gerechnet werden, für den der Verfasser der "Reden über die Religion" und spätere Berliner Dogmatikprofessor die Verkörperung sämtlicher theologischen Fehlorientierungen schlechthin darstellte. Dieses apologetische Hemmnis behinderte jede Diskussion der Problemzonen in Schleiermachers Denken. Eine dieser Zonen ist sein lebenslang virulenter Antijudaismus. Erst seit wenigen Jahren, seit der wegweisenden Studie von Klaus Beckmann [1], ist es überhaupt möglich, über dieses unerfreuliche Faktum so zu sprechen, wie es die Lage verlangt.
Blum selbst spricht eine offene Sprache, ohne in anklagenden Ton zu verfallen. Dies verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass er primär an der Antijudaismusfrage in der Pädagogik interessiert ist und Schleiermachers Erziehungstheorie dafür eine exemplarische Rolle spielt. Eine Revision des neuesten Forschungsstandes bringt seine Rekonstruktion nicht. Die fatale Verstrickung Schleiermachers in antijüdische Urteilsmuster und Denkweisen seit seiner Frühzeit, also trotz der intensiven Einbindung in die frühromantische Berliner Salonkultur, ist inzwischen bekannt und mehrfach beschrieben worden. Auch ihre Auswirkungen auf die Theoriebildung der späteren Jahrzehnte, insbesondere auf die Konzeption der Glaubenslehre ("Der christliche Glaube", 1821/22 und 1830/31) mit ihrer Beschreibung des Christentums als einer dem Judentum wesentlich überlegenen Frömmigkeitsform, sind mittlerweile vertraute Sachverhalte. Blums Verdienst besteht vielmehr zum einen darin, dass er die Stabilität dieser Muster noch einmal - und zwar in einem breiten geistesgeschichtlichen Kontext - aufweist, zum anderen darin, dass er die Spuren von Schleiermachers Antijudaismus nun auch in der Erziehungslehre kritisch nachzeichnet.
Schleiermachers Pädagogik war nicht nur, weil sie auf religionstheoretischen Grundannahmen basierte, von seiner christlichen Prägung her bestimmt. In einer eingehenden Rekonstruktion zeigt Blum, dass sie aufgrund der engen Bindung von Bildung, Sitte und Frömmigkeit auch das gesamte Urteils- und Abwertungskonstrukt transportiert, das Schleiermacher in Richtung der jüdischen Religion entwickelt hat. Besonders bei der permanent gebrauchten Gegenüberstellung von "Alt" und "Neu" (Bund, Gottesrelation, Messianitätsgedanke) handelt es sich um eine systematisch ausgebildete Verwerfungsfigur. Dass sie auch durch keine entgegenlaufende Erfahrung im persönlichen Umgang in Frage gestellt wurde, erstaunt in Rücksicht auf den Pädagogiktheoretiker um so mehr, als ja gerade Schleiermacher, dieses "Genie der Freundschaft", der selbst aus dem dialogischen Geschehen heraus gelebt und gedacht hat, als Erziehungsziel die Ausbildung einer allseitigen Fähigkeit versteht, sich mit dem und den Anderen in ein Kommunikationsverhältnis zu setzen. Freie Individualität ist für ihn gar nicht denkbar ohne das ständige, wahrhaftige In-Bezug-Sein auf das vom eigenen Selbst jeweils verschiedene Gegenüber.
Zur Kontextualität von Schleiermachers antijüdischer Position gehört, wie Blum immer wieder betont, der Umstand, dass sich die sogenannte "Judenfrage" zu seiner Zeit allenfalls ansatzweise und jedenfalls ohne begriffliche Bestimmtheit stellte. Wenn sich dies aber dann zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin änderte, so ist das durch den dezidiert judenfeindlichen Standpunkt Schleiermacherschen Typs mitbedingt. Die von Blum im ersten Teil seines Buches erörterten negativen Urteile über Emanzipation und kulturelle Zugehörigkeit der Juden haben, sofern in ihnen ein prinzipieller theologischer und sozialer Antijudaismus zum Ausdruck kommt, einen nicht zu leugnenden Anteil an der Etablierung einer signifikant judenfeindlichen Haltung im deutschen evangelischen Bürgertum. Nur dieser - kirchlich-theologisch mitgeprägten - Disposition wegen konnte schließlich jener verhängnisvolle Antisemitismus mit unbedingter Exklusionslogik entstehen, aus dem heraus dann die Nationalsozialisten ihre Vernichtungsprogrammatik formuliert haben.
Blums Buch provoziert die Frage, ob es bei der inzwischen ziemlich gängigen Hochpreisung Schleiermachers als eines klassisch-kanonischen Meisterdenkers der Pädagogik bleiben kann, wenn doch die Verwebung von erzieherischem Handeln, politischer Sphäre und christlicher Sprachwelt von ihren antijüdischen Konnotationen nicht getrennt werden kann. Nun wird man an dieser Stelle aus Schleiermacher nichts anderes machen wollen, als er war: ein protestantischer Theologe, und das ist er letzten Endes auch in seinen nichttheologischen Theorieaktivitäten geblieben. Mit Recht hebt Blum aber hervor, dass wir uns aus guten Gründen mit Antijudaismen und Antisemitismen in der christlichen Welt nicht mehr abfinden können, seien sie auch durch die innovativsten und wirkungsstärksten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte gedeckt. Mindestens für die derzeit tätige, zwei oder drei Jahrzehnte nach Kriegsende geborene Wissenschaftlergeneration gilt, dass sie auf solche Urteilsmuster mit klarer Missbilligung reagiert. Blums Buch ist ein erfreulicher Beleg dafür, dass diese Reaktion nicht ihrerseits in die Selbstblockade wissenschaftlichen Denkens führen muss, sondern - was doch eine zentrale Aufgabe der historiographischen und besonders der ideengeschichtlichen Arbeit ist - einen starken Differenzierungsgewinn mit sich bringt. Sie ist selbst ein Aspekt jener Transformationsleistung, die als notwendige Konsequenz aus der Katastrophe des 'Dritten Reiches' aller christlichen Theologie aufgegeben ist.
Anmerkung:
[1] Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002.
Matthias Wolfes