Matthias Blum / Rainer Kampling (Hgg.): Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus. Neutestamentliche Exegeten der "Katholischen Tübinger Schule" im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 79), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 271 S., ISBN 978-3-515-10199-8, EUR 52,00
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Im Zentrum des Sammelbands stehen Leben und Werk von sechs Neutestamentlern, die seit 1812 beziehungsweise 1817 bis in die 1880er Jahre an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Ellwangen und später in Tübingen tätig waren. Gerahmt werden die Porträts von Vorschlägen, wie diese sechs Exegeten in die Theologiegeschichte einzuordnen sind, wobei der Beitrag Robert Vorholts zum Verständnis von Schriftinspiration in der frühjüdischen Literatur und dem Neuen Testament (229-240) thematisch ein wenig aus dem Rahmen fällt.
Vorgeschaltet ist Ina Ulrike Pauls dichte Beschreibung des Ringens um die 1819 im Württembergischen Verfassungsvertrag festgeschriebene konfessionelle Parität. Die einzigartige "Tradition des Miteinanders im Kontroversen" (13) habe Württemberg einen relativen "Kulturfrieden" (10) ermöglicht und könnte, so Paul, "als eines der Substrate für das Aufblühen der katholischen Tübinger Schule" interpretiert werden (10).
Ulrich Köpf dokumentiert den Stand der Forschungskontroverse über den Begriff "Katholische Tübinger Schule", um sie sogleich weiterzuführen. Gegen Max Seckler, der die Verwendung des Begriffs als "Qualitäts- und Richtungsbegriff" auf die Mitte der 1830er Jahre datierte, kommt Köpf zu dem Ergebnis, dass erst Schanz die "Tübinger Schule" 1898 "erstmals in den Sprachgebrauch an der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät eingeführt" habe (61). Angesichts dessen sei es in Bezug auf die Frühphase der Tübinger Katholisch-Theologischen Fakultät angemessener, auf den Schulbegriff zu verzichten, ohne die "offenkundige Bedeutung dieser Theologen und ihrer Leistungen" zu schmälern (65).
Einen gänzlich anderen Blickwinkel wählt Albert Franz, der - über Secklers Kategorien hinaus und ausgehend von Johann Sebastian Dreys Offenbarungsverständnis - der "Tübinger Theologie" eine eigene "Tübinger Systemgestalt" zuspricht (76). Ziel und Anspruch sei hierbei, Theologie als "kritische Wissenschaft 'des Ganzen'" (79) zu betreiben und die systematische Theologie mit der historisch-kritischen Forschung in einen konstruktiven Zusammenhang zu bringen (81).
Norbert Wolff schildert im ersten biographischen Porträt weitgehend unbeeindruckt von der Debatte um die "Tübinger Schule", wie sich Peter Alois Gratz (1769-1849) von einem an erbaulicher und moralischer Bibelauslegung interessierten "Sailer-Schüler" (85) zu einem historisch-kritisch arbeitenden "Bibelwissenschaftler" (88) wandelte, dessen Matthäus-Kommentar von 1821/23 unter Häresieverdacht geriet und die akademische Laufbahn seines Autors beendete.
Matthias Blum hingegen überlässt sich in seinem Beitrag über den Gratz-Nachfolger Andreas Benedikt Feilmoser (1777-1831) ausdrücklich der "Leserlenkung" (108) durch das Secklersche Verständnis der "Tübinger Schule". Das "Profil Feilmosers als katholischer Exeget" (109) zeigt sich für Blum vor allem darin, dass sich Feilmoser als historisch-kritisch arbeitender aber auch kirchentreuer Exeget vorbildhaft "zwischen kirchlichem Lehramt und protestantischer Bibelexegese" (109) behauptet habe und somit "den wissenschaftlichen Ethos [sic] des katholischen Bibelwissenschaftlers der Tübinger Schule" par excellence verkörpere (129).
Martin Joseph Mack (1805-1885) wird im Beitrag Christoph Heils als "Ultramontaner" und "Möhlerianer" (133) gezeichnet, dessen "kirchlich-dogmatisches Vorverständnis" (136) seine akribische historisch-kritische Arbeit dominiert habe. Heil sieht darin eine Verbindung von "konservativer Kirchlichkeit" mit "wissenschaftlicher Sorgfalt und akademischer Dialogbereitschaft" (131) und rechnet den "Selbstdenker" Mack ebenfalls zur "Tübinger Schule" (146).
Michael Theobald zeigt, dass Joseph Gehringer (1803-1856) keineswegs der wenig fähige Wissenschaftler war, für den ihn die bisherige Forschung gehalten hatte. Vielmehr entwickelte Gehringer unabhängig von der protestantischen Exegese die These, dass Markus das älteste Evangelium sei und zusammen mit zwei weiteren "Redequellen" die Vorlage für die anderen Evangelisten gebildet habe (170-176). Angewandt auf die Abendmahlsszene führte die Annahme der Markuspriorität Gehringer zu einer stärkeren Betonung des Mahlcharakters der Heiligen Messe, den er im Anschluss an Hirscher ohnehin für unumgänglich hielt (165f., 178). Seine extrem ultramontane Zeitgenossen nahmen dies zum Anlass, Gehringer mit "Spott- und Hasstiraden" (148) zu überziehen und ihn letztlich aus dem Amt zu drängen. Für Theobald ist dieser frühe Beleg für eine eigenständig entwickelte Zwei-Quellen-Theorie auf katholischer Seite gewichtig genug, um "die Geschichte der Zwei-Quellen-Theorie zwar nicht neu zu schreiben, aber doch zu modifizieren und von ihrer einseitigen Fixierung auf die protestantische Exegese der Zeit zumindest ein wenig zu lösen" (153).
Auch Gehringer hätte man als "Selbstdenker" einstufen können, doch Theobald verzichtet auf die Vergabe des Etiketts "Tübinger Schule", genau wie Rainer Kampling, der den als akademischen Lehrer seinerzeit äußerst beliebten Moriz von Aberle (1819-1875) porträtiert. Der sehr belesene aber kaum publizistisch in Erscheinung getretene Aberle versuchte, die neutestamentlichen Schriften konsequent aus ihrem Entstehungskontext heraus zu lesen, was, wie Kampling hervorhebt, Mitte des 19. Jahrhunderts einem "radikalen Paradigmenwechsel" gleichkam (195).
Aberles Schüler Paul von Schanz (1841-1905) führte den Grundansatz seines Lehrers unter den Bedingungen der beginnenden Modernismuskrise weiter, wie Markus Thurau, der jüngst über Schanz promoviert hat, kenntnisreich aufzeigt. Ganz auf der Linie der 1876 gegründeten Görres-Gesellschaft versuchte Schanz, die Exegese als "Katholische Wissenschaft" zu betreiben (214f.), die einerseits in ihren wissenschaftlichen Methoden eigenständig arbeiten sollte, andererseits aber in ihren Ergebnissen nicht im Widerspruch zum übernatürlichen Offenbarungsgut geraten durfte.
Am Ende des Bandes umreißt Otto Weiß konzise die ideengeschichtlichen Trends im 'langen' 19. Jahrhundert sowie die damit korrespondierende Bandbreite von Reaktionen katholischer Theologen und des römischen Lehramts (241-262). Vor diesem Hintergrund gelingt es Weiß, die behandelten Tübinger Exegeten im Spektrum der innerkatholischen Positionen präzise zu verorten. Ihre jeweiligen Standpunkte und Blickwinkel sowie ihre denkerische Reichweite kommen hierbei sehr viel konturierter und differenzierter zur Geltung als in jenen Beiträgen, die explizit oder implizit um Existenz, Profil und Datierung der "Katholischen Tübinger Schule" ringen.
Die Zusammenschau der sehr unterschiedlich akzentuierten Beiträge des Sammelbands lehrt, dass die konstruktive Verschränkung von historischer und systematischer Fragerichtung ein in vieler Hinsicht anspruchsvolles Unterfangen ist: Den an möglichst detailgetreuen Einblicken interessierten Historiker stört der Versuch mancher Autoren, die Unebenheiten historischer Akteure mit einem groß angelegten Fresko namens "Tübinger Schule" zu überputzen. Wer hingegen die Renovation des 'Hauses der Theologie' aus systematischer Perspektive vorantreiben will, der wird sich womöglich um die Statik sorgen, sobald die Historiker Ecksteine zu Forschungszwecken entnehmen und präparieren wollen.
Markus Müller