Rezension über:

Nicole Colin / Matthias N. Lorenz / Joachim Umlauf (Hgg.): Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge; Bd. 25), Essen: Klartext 2011, 176 S., ISBN 978-3-8375-0346-3, EUR 22,00
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Rezension von:
Ilse Raaijmakers
Department of History, Maastricht University
Empfohlene Zitierweise:
Ilse Raaijmakers: Rezension von: Nicole Colin / Matthias N. Lorenz / Joachim Umlauf (Hgg.): Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten, Essen: Klartext 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/04/20574.html


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Nicole Colin / Matthias N. Lorenz / Joachim Umlauf (Hgg.): Täter und Tabu

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"Es soll Stigmatisierungen aufheben und wird zugleich massiv zur Stigmatisierung verwendet" (9). Die Rede ist von "Political Correctness". Mit dem Begriff wird in öffentlichen Auseinandersetzungen verleumdet, gleichzeitig gilt er aber als Voraussetzung für die Teilnahme an solchen Debatten. Diese Beobachtung war der Ausgangspunkt einer internationalen Tagung des Goethe-Instituts Niederlande und des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD) [1], die Ende 2008 in Amsterdam stattfand. Daraus entstand der 2011 veröffentlichte Sammelband.

Die 11 Beiträge beschäftigen sich mit Fragen der politischen Korrektheit - und parallel dazu Tabus - in historischen Debatten in Deutschland und in den Niederlanden. Inwieweit sind Tabuzonen eine notwendige Bedingung der Geschichtsschreibung? Zwei Debatten wird besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt: der niederländischen Debatte um die "Graue Vergangenheit" und der internationalen Debatte um den Bombenkrieg gegen Deutschland. Die übrigen Beiträge beschäftigen sich mit einzelnen Debatten und Tabus. Die Herausgeber präsentieren einen eklektischen Sammelband, der nicht nur verschiedene historische Debatten analysiert, sondern auch - zumindest in den Niederlanden - aktiv auf sie einwirken will.

"Grenzen der Toleranz" erscheinen etwa in der Debatte um die "Graue Vergangenheit". Diese in Deutschland weitgehend unbekannte Diskussion ist Thema eines einleuchtenden Beitrags von Krijn Thijs. Die Debatte wurde ausgelöst von Chris van der Heijden, der in seinem 2001 veröffentlichten Buch Grijs Verleden [Graue Vergangenheit] ein neues Bild der niederländischen Besatzungszeit präsentiert. [2] Er beschrieb die Haltung der Niederländer während des Zweiten Weltkriegs weder als Gut noch als Böse, sondern betonte stattdessen die Normalität des Besatzungsalltags für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung: Anpassung und Opportunismus. Van der Heijden bietet kein schwarz-weißes Bild, sondern eine Reichhaltigkeit an Grautönen. Thijs zeigt, dass dieses Geschichtsbild 2001 längst nicht mehr neu war. Der inszenierte Tabubruch Van der Heijdens - zum Beispiel seine Agitation gegen die moralische Autorität der Holocaust-Erinnerung - machte ihn jedoch zum Emblem dieser Revision. Van der Heijdens Vorliebe für die Verletzung von Diskursgrenzen wird auch in seinem Beitrag für diesen Sammelband illustriert. Der Beitrag über die niederländische faschistische Partei trägt den provokanten Titel: "Die NSB - eine ganz normale politische Partei?" Die Verneinung dieser rhetorischen Frage von anderen Historikern illustriert Van der Heijden zufolge die historiographische Tendenz, "mehr auf politische denn historische Korrektheit zu achten" (30).

Die Kritik auf Grijs Verleden war vielseitig. Am häufigsten wurde auf die moralischen Implikationen des Buches hingewiesen, nämlich eine Nivellierung des Geschichtsbildes. Van der Heijden postuliert für sich eine rein objektive, faktenorientierte Geschichtswissenschaft; mit moralischen Kategorien ließe sich die historische Wahrheit nicht ergründen. Historikerin Evelien Gans, eine seiner vehementesten Kritikerinnen, ist einer ganz anderen Meinung zugetan. Van der Heijdens graues Geschichtsbild habe eine klar nivellierende Konsequenz: "Eigentlich waren doch alle ein bisschen Täter und Opfer...". In einem gleichnamigen polemischen Beitrag formuliert die Professorin für Neuere jüdische Geschichte ihre Kritik an Van der Heijdens Werk. Dieser Beitrag, Anfang 2010 in der linksorientierten Wochenzeitschrift De Groene Amsterdammer publiziert, führte zu einer vehementen Debatte unter niederländischen Historikern. Außer dem Vorwurf einer Nivellierungstendenz bezichtigte Gans Van der Heijden auch des sekundären Antisemitismus, da er ihrer Meinung nach die Shoah relativiere und ein stereotypes Bild vom "Juden" entwerfe. Hier ist die Debatte jedoch auf persönliche Grenzen gestoßen; Van der Heijden verweigert auf die Bezichtigung zu reagieren und mit Gans weiter zu diskutieren.

Die Parallele zwischen dieser Debatte, dem Historikerstreit und anderen deutschen Geschichtsdebatten sind unübersehbar. Thijs weist kurz darauf hin, in Gans Beitrag ist sogar die Rede von einem "niederländischen Historikerstreit". Doch ist es eine versäumte Chance des Sammelbandes, dass dieses Thema der Parallele zwischen beiden Ländern nicht weiter ausgearbeitet wird. Die Frage welche typisch niederländische und welche typisch deutsche Tabuzonen sind, bleibt unbeantwortet. Dies hätte vor allem bei der zweiten Debatte aufgezeigt werden können, der deutschen Bombenkriegsdebatte, in der das Verschwimmen der Grenzen zwischen Tätern und Opfern eine gleichfalls heikle Rolle spielt. Es gibt hierzu ein niederländisches Pendant, das auch im Sammelband besprochen wird. Interessanterweise gilt die historiographische Bombenkriegsdebatte in den Niederlanden als nicht brisant. Unterschiedliche nationale Tabuzonen liegen dem anscheinend zugrunde.

Die deutsche Bombenkriegsdebatte wird im Beitrag von Lothar Kettenacker nachgezeichnet. Insbesondere geht er auf die von Sebald und Friedrich um die Jahrhundertwende ausgelöste Debatte in Deutschland ein, die er für einen Tabubruch hält. Zuvor "hatte die Öffentlichkeit also das ganze Grauen und das Ausmaß der Zerstörung nicht wirklich wahrgenommen [...]." (70) Eine der heikelsten Fragen der Debatte ist, ob die heutige Anerkennung deutschen Leids ein Ablenken von der deutschen Schuld beinhaltet. Kettenacker zufolge ist dies nicht der Fall: "Um den ganzen Wahnsinn des Krieges in all seinen Dimensionen zu begreifen, ist die Erkenntnis vom Leid auf allen Seiten unumgänglich." (75) Ähnlich Joost Rosendaal am Beispiel von Vergessen und Erinnern des alliierten Bombardements von Nimwegen im Jahre 1944. Das jahrelange selbstverordnete Schweigen über die Opfer war kein Ergebnis von Political Correctness gegenüber den alliierten Truppen, sondern basiert auf einem allgemeinen Tabu: das Gedenken von zivilen Opfern des Zweiten Weltkriegs. Die von Zeitzeugen empfundene Sinnlosigkeit dieser Opfer machte es schwierig, "einen moralischen Anspruch auf ein offizielles Gedenken zu benennen". (86) Oliver Lubrich schließlich versucht in seinem Beitrag eine neue Perspektive an die deutsche Bombenkriegsdebatte zuzufügen, indem er eine ungehörte Gruppe von Zeitzeugen zu Worte kommen lässt: Ausländer, die im "Dritten Reich" gelebt haben. Obwohl viele literarische Berichte für die Geschichtsschreibung des Bombenkriegs relevant sind, bleibt der von Lubrich behauptete Beitrag dieser Stimmen zur heutigen Bombenkriegsdebatte unklar.

In weiteren Beiträgen werden weitere Aspekte des Tabuthemas vor allem aus literaturwissenschaftlicher Sicht vorgestellt, wobei nur einer der Herausgeber des Bandes, Matthias N. Lorenz, komparativ vorgeht. Anhand von Erzählungen des niederländischen Schriftstellers Harry Mulisch und des deutschen Schriftstellers Christian Delius bespricht er Tabuverletzungen als literarische Strategie, die herrschende Paradoxie des Phänomens "Political Correctness" aufzuzeigen. Die Frage ist, ob in der Kunst andere Grenzen des Sagbaren wirksam sind. Diese interdisziplinäre Herangehensweise des Themas ist eine Stärke des Bandes. Sein gravierender Nachteil ist die fehlende vergleichende Sicht zwischen den benachbarten Ländern. Aufgrund des Titels des Bandes hätte man mehr komparative Arbeit erwarten dürfen. Ob moralische Fragen und damit Tabuzonen in Deutschland und in den Niederlanden wissenschaftlich anders abgehandelt werden, bleibt eine offene, jedoch interessante Frage.


Anmerkungen:

[1] Seit Dezember 2010: NIOD - Niederländisches Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien.

[2] Chris van der Heijden: Grijs verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog, Amsterdam u.a. 2001.

Ilse Raaijmakers