Nicole Colin / Franziska Schößler / Nike Thurn (Hgg.): Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder, Bielefeld: transcript 2012, 406 S., ISBN 978-3-8376-1623-1, EUR 35,80
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Prekär ist die Situation der gehbehinderten Angela, der transsexuellen Elvira, des Gastarbeiters Ali und Whity, dem Sohn eines reichen weißen Farmers und einer schwarzen Sklavin allemal, aber war die Darstellung von Minoritäten tatsächlich eine Obsession Rainer Werner Fassbinders? Etwas zu selbstverständlich richten die Herausgeber den Blick auf Minoritäten im Werk des Filmemachers. Besonders überzeugend ist der 2012 erschienene Band daher an den Stellen, wo diese Frage originär verhandelt wird, wenn etwa Alexander Zons in Rekurs auf Jacques Rancière erklärt, Fassbinder unterwerfe seine Figuren vielmehr "einem konsequenten Regime der Gleichheit" oder Volker Woltersdorff herausarbeitet, dass Fassbinder den Minoritätendiskurs in Querelle und Die bitteren Tränen der Petra von Kant dezidiert vermeidet. Während in Querelle die Frage der Homosexualität und eine damit verbundene Randständigkeit überhaupt nicht vorkommt, berichtet Petra von Kant zwar von ihren früheren Geliebten, faktisch aber betritt kein einziger Mann ihr Zimmer, in welchem sich das gesamte Drama ereignet. Wobei hier keineswegs Männer fehlen, vielmehr spielen sie für die Protagonistinnen keine Rolle mehr. Mittels dieser Totalisierung, in welcher "das Minoritäre bereits das Ganze" (230) ist, grenzt Fassbinder sich nach Woltersdorff von einem Minderheitsdiskurs ab.
Von dieser grundsätzlichen Problematik abgesehen, ist der Aufbau des Bandes gelungen: So ergeben sich im chronologisch nach der Entstehungszeit der Fassbinder-Filme geordneten und interdisziplinär angelegten Buch immer wieder erhellende Querverbindungen. AutorInnen wie Özkan Ezli, Nicole Colin, Franziska Schößler, Kati Röttger und Maren Butte vergleichen innerhalb der Fragestellungen ihrer Texte mehrere Filme von Fassbinder, zusätzlich beziehen fast alle weitere Filme zur Stärkung ihrer Thesen mit ein. Woraus sich insgesamt ein umfassendes Bild der Bedeutung der Minoritäten im Werk des Filmemachers ergibt, das jedoch die wichtigen Fernsehserien ausspart. Untereinander weisen die Analysen viele Übereinstimmungen auf, was teilweise zu Redundanzen führt. So hebt fast jeder Autor und jede Autorin die heterogene Darstellung der Opfer in Fassbinders Filmen sowie die variablen Opfer-Täter-Beziehungen hervor, und alle kommen zu dem Ergebnis, dass Fassbinder das individuelle Drama mit den gesellschaftlichen Strukturen rückkoppelt. Letzterer Punkt stellt tatsächlich eine wesentliche Grundstruktur des Fassbinder'schen Werkes dar und weist zugleich - so lässt sich ergänzen - wieder auf die eigentliche Obsession des Filmemachers hin: Das Aufzeigen des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum, seien es Büroangestellte, Fabrikbesitzer, Prostituierte oder Homosexuelle.
Diese Erkenntnis ist wie die zuvor genannten aber keineswegs neu. Besonders die ebenso wichtige wie umfassende Fassbinder-Reflektion Thomas Elsaessers prägt den Band, immer wieder dient er als Bezugspunkt. Während Senta Siewert bewusst "Elsaessers geschichtspolitische Lesart" (257) durch ein genaueres Studium der formal-ästhetischen Mittel in In einem Jahr mit 13 Monden ergänzt, konzentrieren sich viele andere Texte letztlich darauf Thesen Elsaessers zu vertiefen.
Besonders stark sind die Aufsätze, wenn sie die Ästhetik der Filme eng mit ihrem Inhalt verknüpfen beziehungsweise beides aufeinander beziehen: Kati Röttger und Maren Butte verbinden ihre Analyse der Erzählweise in Angst essen Seele mit der sozialen Fremdwerdung der Protagonisten, welche mittels einer "ästhetischen 'Fremdmachung'" (128) intensiviert wird und thematisieren dadurch auch die Variabilität minoritärer Identität. Hier, wie auch in anderen Texten des Bandes, spielt das "Regime der Blicke", auf welches ebenfalls Thomas Elsaesser zuerst hingewiesen hat, die entscheidende, Ausgrenzung herstellende Rolle. Während eine Verbindung zwischen formal-ästhetischen Mitteln und erzählerischer Handlung immer wieder ertragreiche Ergebnisse liefert, findet eine Analyse der Dialoge, also der von Fassbinder verwendeten Sprache, nur bei Priscilla Layne, Özkan Ezli, Nicole Colin, Valentin Rauer und im Aufsatz von Kati Röttger und Maren Butte statt. Im Kontrast dazu zitieren die meisten der 15 AutorInnen Fassbinder selbst. Einzig Claudia Liebrand betrachtet Fassbinders Aussage über das eigene Werk kritisch und charakterisiert sie als "holzschnittartig" hinsichtlich ihrer "politischen Theoreme" (57). Ansonsten dienen die Aussagen des Filmemachers meist dazu, die eigenen Thesen zu stützen.
Claudia Liebrand und Priscilla Layne sorgen für eine wichtige Neubewertung des bisher nur marginal behandelten, 1970 fertig gestellten Films Whity. Wobei besonders Layne eine ebenso überraschende wie überzeugende Idee vorbringt: Den vom eigenen weißen Vater unterdrückten Whity parallelisiert sie mit der Situation der 1968er-Rebellen, denn "[g]enau wie die deutschen 68er mit ihren Vorfahren verwandt sind, ist der 'Mulatte' des plantation melodrama mit dem Unterdrücker verwandt, den er bekämpft." (88)
Einen Brennpunkt der Analysen bildet die Diskussion über Fassbinders Verwendung stereotyper Figuren: die gehbehinderte Angela als Opfer mit einer daraus resultierenden Bösartigkeit (Chinesisches Roulette), der besitzgierige jüdische Immobilienspekulant Anton Saitz (In einem Jahr mit 13 Monden), die nicht minder materialistisch agierende jüdische Ärztin Dr. Katz (Die Sehnsucht der Veronika Voss) und der überaus potente und reiche Jude in Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod. Während Carol Poore die Darstellung Angelas und die Autorin Franziska Schößler die Rolle von Anton Saitz kritisieren und darin, vereinfacht gesagt, eine Fortschreibung des Stereotypes statt seiner Brechung sehen, vertreten Nike Thurn und Irina Gradinari die Gegenthese: Letztere ist der Ansicht, Fassbinder setze in Lili Marleen die jüdischen Figuren zwar stereotyp ein, es gelinge ihm aber, sie durch gezielte "visuelle Verzerrungen" und "Unschärfe" (344) derart als "'reine' Repräsentationen" und "mediale Konstruktionen" (343) zu kennzeichnen, dass eine Umschrift der Stereotype seitens der Zuschauer erfolgt. Nike Thurn stellt in ihrem Text über Fassbinders viel diskutiertes Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod die Stereotypisierung aller Figuren heraus und relativiert damit diejenige der jüdischen Figuren. Wobei sie mit einer gewagten These schließt: Thurn vermutet die nichtjüdischen Gegner des Stückes um Joachim Fest hätten während der Kontroverse im Jahr 1976 weniger ein Problem mit der Darstellung der Juden, als mit der Zeichnung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, also sich selbst, gehabt (288).
Einig sind sich die AutorInnen hingegen im Hinblick auf Rainer Werner Fassbinders vorrausschauende Fähigkeiten. Die HerausgeberInnen attestieren ihm ein "Konzept der Intrakulturalität avant la lettre" (11), Nicole Colin eine Vorwegnahme von Michel Foucaults Analysen zur Verknüpfung von Machtmechanismen und Sexualität, Volker Woltersdorff sieht in Fassbinder einen Vorreiter der Queer-Bewegung und indem Senta Siewert erklärt, Fassbinder sei seiner Zeit voraus gewesen und "seine Ästhetik [sei] heute nach wie vor aktuell" (265), liefert sie ein überzeugendes Stichwort, warum es nicht nur wünschenswert, sondern überaus lohnend ist Fassbinders Werk weiter zu bearbeiten.
Anna Fricke