Sigrid Schade / Silke Wenk: Studien zur Visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (= Studien zur visuellen Kultur; 8), Bielefeld: transcript 2011, 232 S., ISBN 978-3-89942-990-9, EUR 22,80
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Braucht die Kunstgeschichte Visual Cultural Studies oder die Medien- und Bildwissenschaften? Den Boden dafür, dass sich heute diese Frage stellt, legte das Fach seit seiner Etablierung im 19. Jahrhundert selbst. So provozierte gerade die Fokussierung auf Meisterwerke der Kunst, wie sie die ältere Tradition seit der Renaissance vorgab, sowie das anfängliche Unverständnis für die Entwicklung hin zur abstrakten Kunst und die Ausklammerung der Neuen Medien eine entsprechende Ausdifferenzierung zunächst der Fragestellungen und schließlich auch des Fachs seit den 70er-Jahren. Selbstkritisch stellt sich das Fach heute dazu, wie die Kunsthistorikerin Regine Prange mit ihrer Untersuchung zu den Ursachen für diese Entwicklung 2004 aufzeigt. Von ihr werden dafür vor allem die Wurzeln des Fachs in der Philosophischen Ästhetik, insbesondere der deutschen Romantik verantwortlich gemacht. [1]
Aus einer entsprechend ganz anderen Perspektive stellen sich dieser Frage die beiden Kunsthistorikerinnen Sigrid Schade und Silke Wenk in ihrer Einführung zu "Studien der Visuellen Kultur", die Ende letzten Jahres erschien. Es ist der 8. Band in der gleichnamigen Reihe (von 18), den die beiden Forscherinnen seit 2000 (bis 2006 mit Daniela Hammer-Tugendhat) herausgegeben haben. Es ist jedoch nicht nur die Kunstgeschichte, sondern vor allem auch die Bildwissenschaft, die von ihnen kritisch beleuchtet wird. So erweist sich deren Untersuchung in zweifacher Hinsicht als wertvoll: Zum einen, indem die Autorinnen die Relevanz kunstgeschichtlicher Fragen für die Lebenswirklichkeit herausarbeiten und zum anderen, indem sie im Einklang mit diesem Anliegen, einen "neuen" methodischen Weg vorschlagen.
So sind es die tendenziell unterdrückten Fragen, wie sie maßgeblich von der Genderforschung und Medienwissenschaft aufgeworfen wurden, nach den Wechselwirkungen von Kunst und Gestaltung, high und low, die nach der Autorenschaft und nach den mit den Künsten vermittelten Repräsentationsmodellen und ihrer Tradierung (letztlich "den visuellen Konstruktionen des Sozialen" (W.J.T. Mitchell)) sowie deren Institutionalisierung, die die Autorinnen zu einer Revision auch der Methoden veranlassen. Insofern sind es vor allem die Voraussetzungen, letztlich die "Vorurteile" der historisch-kulturell orientierten Ikonologie, wie sie die Kunstgeschichte praktiziert und solche der formal-ästhetisch geprägten Phänomenologie der Bildwissenschaft, die kritisch hinterfragt werden. Erstaunlich und zugleich erhellend erweist sich dann, dass es gerade die lange Zeit von der klassischen Kunstgeschichte als kritisch angesehene, aus der Literaturwissenschaft entlehnte Zeichentheorie, die Semiologie ist, die die konzeptionelle Grundlage für eine Erweiterung bieten soll und auch kann.
Wesentlich für den Ansatz der Autorinnen ist die Annahme, dass die viel diskutierte Macht der Bilder als ein Begehren zu verstehen ist, ein Begehren nach "Okkupation", zur Erfüllung von Wünschen oder zur Vermeidung von Ängsten (118-129). Die Nähe zu den kulturanthropologischen Ansätzen Warburgs, auf den sich Schade und Wenk auch unmittelbar beziehen, sowie zu Hartmut Böhme (Fetischismus und Kultur) wird hier erkennbar. [2] Dieses Begehren äußere sich, so die These, in Praktiken der Bildproduktion und -rezeption. Zentral für "Studien der visuellen Kultur" sei es demnach, danach zu fragen, "Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht?" (53, auch einleitend 7ff.).
Dieser Ansatz richtet sich gegen eine "unmittelbare Verständlichkeit des Visuellen", die häufig unterstellt werde, insofern dass etwas immer das Gleiche sei und bedeute (14f.). Die Viel- statt Eindeutigkeit von Zeichen und Gebärden wird entsprechend im ersten Kapitel zum Thema (13-34). Dass Zeichen dennoch verstanden werden, hänge von der gemeinsamen "Sprache", letztlich einem geschlossenen Regelsystem von Zeichen aus sichtbaren und unsichtbaren Elementen ab, den Bild- und Wortvorstellungen. So bilde die gemeinsame "Sprache" die Voraussetzung für Sozialität. Zeichen seien kulturelle Konstruktionen (44f.). Entsprechend steht die Verortung der Semiologie (Lehre von den Zeichen), die in der Nachfolge von Ferdinand Saussures, Roland Barthes, Charles Sanders Peirce bis hin zu Mieke Bal und der Genderforschung zu sehen ist, innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen im zweiten Kapitel im Vordergrund (42-63).
Zentral für die eingeforderte konzeptuelle Erweiterung des Fachs erweist sich das dritte Kapitel. Jedes Sehen und Lesen bereits als ein Deuten bzw. Umdeuten zu begreifen, steht darin im Mittelpunkt (65-176, 14f.). Diese Auffassung richtet sich insofern sowohl gegen die vermeintlich sachlich-ikonologische Rezeption Panofskys (71ff., 76, 80, ergänzend 13-35) als auch die tendenziell bildwissenschaftlich-essentialistische und enthistorisierende Werkauffassung Gottfried Boehms (46ff., 52, 35-53). [3] Die Nähe von Panofsky über Cassirer zu Warburg legt es jedoch bereits nahe, dass die Funktion der Bilder eines Zu-sehen-Gebens und Bedeutens sowie deren Verschiebungen gerade den Ansatz Panofskys für eine semiologische Analyse fruchtbar werden lassen (82, 83-98). [4] Bilder und Sprache geben insofern Etwas zu verstehen (Bild- und Wortvorstellungen), ohne das sie keine Bedeutung haben. Sie seien auf je unterschiedliche Weise (Barthes: je unterschiedliche Ordnungen der Wahrnehmungen, 91ff.) die Bezeichnenden (Signifikanten), mit denen etwas bezeichnet werde (Signifikate). Ihre Verbindung sei eine willkürliche, da kulturell und historisch gesetzte. Sie werde entsprechend auch nur innerhalb eines Zeichensystems (Peirce: Kodes, 94ff.) als bedeutungsvoll verstanden. Differenzen ergeben sich über die unterschiedlichen Interpretationen der Zeichen in Hinblick auf dasjenige, auf was sie sich beziehen, den Referenten. Insofern seien künstlerische und sprachliche Prozesse, Prozesse der Bedeutungsproduktion und deren Interpretation. Hieran knüpfen die "Studien zur visuellen Kultur" an, indem sie an den Praktiken ihrer Produktion und Rezeption Kritik üben und insofern als Repräsentationskritik zu verstehen sind.
Scheinbare Ähnlichkeiten von Bild und Sprache zu Referenten ("Sichtbarkeitsversprechen", "Evidenzen"), gerade auch der Neuen Medien (83-104, hier 96), gelte es dabei als imaginär aufzudecken. Wie alle Zeichen lassen auch diese sich letztlich als Repräsentationen von Werten verstehen, die über Praktiken der Produktion und Rezeption tradiert werden (97). Nur ein Prozess der "Entselbstverständlichung" der eigenen Begierden, solchen nach "Okkupation" oder von Wünschen und Ängsten, wie die Autorinnen am Beispiel von Wahlen (104-107), bei der Etablierung des Frauenbildes (108-111) oder der Ausgrenzung von "den Anderen" (112-118) aufzeigen, ermögliche im Sinne von Queer Studies eine Ent-Kodierung (118ff.). Den mehr oder weniger bewussten und unbewussten Tradierungsprozessen in Praktiken, Politiken und Medien (120-132) und über affektiv wirksame Faktoren (133-141) gelten entsprechend die nachfolgenden Unterpunkte. Das letzte, vierte Kapitel (143-175) widmet sich schließlich der Funktion der Institutionen (Museen und Ausstellungen) in diesem Feld und dem Eingeständnis der Begrenztheit, wertneutral, d.h. letztlich unabhängig von den Begehren, die einen treiben, zu wirken (168-175). Nur die Anerkennung der Verhältnisse (Bourdieu, 175), vermag einen verantwortlichen Umgang mit Bildern einzuleiten (8) und zugleich die notwendige Erweiterung der Fragen von Kunstgeschichte und Bildwissenschaft nicht nur ins Bewusstsein, sondern, so lässt sich hoffen, auch ins Leben zu rücken. [5]
Anmerkungen:
[1] Regine Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004, 9f. Vgl. ergänzend die kritische Besprechung dazu von Henrik Karge, der vor allem auf das Fehlen der Bezüge zur "Einfühlungsästhetik, der Wahrnehmungspsychologie und der Lebensphilosophie" hinweist, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5, http://www.sehepunkte.de/2007/05/8083.html.
[2] Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006. Vgl. hierzu ergänzend die Rezension von mir in: Kunstchronik (2007), Heft 7, 282ff. und in: http://www.archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2009/948/pdf/Sauer_Hartmut_Boehme_2007.pdf.
[3] Wobei Boehm, so lässt sich dem entgegen halten, mit der Betonung einer "Geschichte des Sehens" eigene Akzente setzt, wenn auch keine handlungsrelevanten. Demnach vermittle das Bild in jedem Jahrhundert anders etwas vom Grund, dem "Ur-Bild, der Grenze oder Spur". Vgl. hierzu grundlegend Gottfried Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hg. von Hans-Georg Gadamer / Gottfried Boehm, Frankfurt/Main 1985, 447-471, hier 454 sowie den Beitrag Boehms zum Tagungsband des von ihm 2006 eröffneten Forschungszentrums "Eikones": Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, hg. von Gottfried Boehm / Birgit Mersmann / Christian Spies, Paderborn 2008, 15-38, hier 21f.
[4] Vgl. hierzu die Aufarbeitung der biografischen Zusammenhänge in: John Michael Krois: Zum Lebensbild Ernst Cassirer, in: http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html (15.02.2012).
[5] Ein vergleichbares Anliegen vor dem Hintergrund vor allem bildwissenschaftlicher sowie kunst-, kultur- und philosophiegeschichtlicher Forschung verfolgt auch die jüngste Publikation von mir: Martina Sauer: Faszination/Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Universitätsbibliothek Heidelberg, ART-Dok, 2012, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2012/1851/.
Martina Sauer