Emmanuel Alloa (Hg.): Erscheinung und Ereignis. Zur Zeitlichkeit des Bildes, München: Wilhelm Fink 2013, 203 S., ISBN 978-3-7705-5504-8, EUR 26,90
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Philosophische Zugangsweisen zu kunstwissenschaftlichen Fragestellungen scheinen unumgänglich. Doch nur eingeschränkt spiegeln sie sich an den Fakultäten wider. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme, denn ohne Vorkenntnisse von den Begrifflichkeiten und Ansätzen zu haben, sind deren Argumentationen nur eingeschränkt nachvollziehbar und entsprechend schwer zu beurteilen. Das gilt auch für den Band Erscheinung und Ereignis, der 2013 von Emmanuel Alloa herausgegeben wurde. Er versammelt neun Aufsätze, die sich vor allem in Auseinandersetzung mit der Fotografie und dem Film vor dem Hintergrund der Tradition der formalen Ästhetik den Fragen nach der Rezeptionsweise des Bildes (Ereignischarakter) und der Bedeutung dessen, was sich dem Rezipienten erschließt (Erscheinungsweisen), stellen.
Gemeinsam folgen die Autorinnen und Autoren einer prozessorientierten Sichtweise von Bildern, wie sie wegweisend vor allem Gottfried Boehm in der Nachfolge von Max Imdahl mit der Unterscheidung von Simultaneität (dynamisches, "sehendes Sehen") und Sukzession ("wiedererkennendes Sehen") einleitete. [1] Das Bild selbst entpuppt sich derart als Grundlage für ein Ereignis, über dessen Erleben (eigentümliche Rhythmen, Chronologien und Zeitläufe) etwas hervorgeht bzw. erscheint. Auf diesem Weg, der sowohl von äußeren, d.h. von den formalen Aspekten geprägten Zeitstrukturen des Bildes, als auch von der inneren, körper-gebundenen Verarbeitung derselben abhängt, scheint für den Betrachter ein Sinn auf, so der Tenor, der neue Spielräume zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit eröffnet (13).
So gelingt es den versammelten Aufsätzen in der Anthologie durch die Betonung der Zeitlichkeit des Bildes selbst (über den Vollzug seiner vorgegebenen Strukturen), die Tradition der formalen Ästhetik fortzuführen, ohne dabei jedoch auf Wahrnehmungs- und Anschauungsweisen im Sinn einer allgemeinen Stil- bzw. Mentalitätsgeschichte oder "Wesensschau" zu verweisen. Sie stellen stattdessen eine Verbindung zu aktuellen Verkörperungsansätzen her. Daneben werden jedoch nach wie vor kaum Bezüge zu politisch-historischen und damit lebensweltlich relevanten Aspekten erkennbar.
Letzteres in die Fragestellung einzubinden, gelingt insbesondere der Philosophin Eva Schürmann, indem sie auf die Bedeutung von Ereignissen bzw. Bildern / Fotografien abhebt, die mit den von Einzelnen und Interessengemeinschaften verfolgten Zielen brechen bzw. sie umstürzen können (17). Demnach sei es die jeweilige Sehweise / Sichtweise des Fotografen, auf die das Bild referiert. So zeuge jede Darstellung von einer Perspektive, die gegenüber dem Dargestellten eingenommen wurde. Darin werde die "Konstruktivität" auch des Fotos erkennbar, die sich zudem in der Differenz des Auges und den technischen Verfahren selbst, den Voraussetzungen des Sehens und den Bewusstseinsleistungen des Fotografen und des Betrachters sowie dem Riss zwischen dem "hier und einmal/früher" (Herta Müller) eines fotografischen Motivs äußere (18-20, Zitat 19, ferner 28, 38).
Im Unterschied zu den kommunikativen, politisch-historisch relevanten Aspekten, die Schürmann stark macht, betonen die nachfolgenden Beiträge eher die Einzigartigkeit der Erscheinungen. So sagen sie zwar etwas über die Welt aus, ohne dass jedoch, wie es Christian Grüny herausstellt "eine von ihnen als eigentlicher oder einer historischen Situation angemessener" erklärt werden könnte. Zu unterschiedlich seien die Zeitformen und -figuren, die Bilder eröffnen (69-70, Zitat 69). Diesem Befund schließt sich Ludger Schwarte an, indem er wie Grüny mit Bezug auf Boehm (56-58, 73) auf die Diskontinuität (der von den Bildstrukturen geprägten Wahrnehmung) in der Homogenität (der Erscheinungen) verweist (79). Dasjenige, was sich zeigt, das "Erkannte" (76) bzw. die Erscheinung eines Ereignisses, stehe schließlich in Beziehung zu außerbildlichen Ereignissen (früheren oder späteren) und könne demnach mit Edgar Wind als "Prozess der Verkörperung" bzw. der Emergenz verstanden werden (81-84). Derart schlägt Schwarte von der formalen Ästhetik ausgehend eine Brücke zur Ikonologie, deren Verbindung allgemein als unvereinbar gilt. Inwiefern Bilder den Betrachter aufwachen lassen und neue virtuelle Realitäten vorstellbar machen können, vermittelt Elli During mit der Untersuchung der Bullet-Time (Kugel-Zeit) im Actionfilm Matrix. Gerade die Variabilität der Zeit, die die Zeitlupenaufnahmen vermitteln, grenze diese von der chronologischen ab, die aufgrund ihrer Logik entsprechend das empathische, sensomotorische Empfinden ansprechen. Entgegen einem "kontrolliert epileptischen Anfall" (Deleuze), wie sie Videospiele erlauben, eröffne die Bullet-Time über die Reflexion derselben, uns gegen die virtuose Manipulation der digitalen Bilder zu stellen (104-105). Dass Fotos zu einer Erweiterung der Erfahrung beizutragen vermögen, diese Auffassung vertritt auch Alloa. Demnach bedürfen auch sie des subjektiv-leiblichen Vollzugs (Merleau-Ponty), sodass sie für uns zu einem événement (Sich-Ereignen) statt avénement (punkförmiges Datum) werden (114-115). Was ins Bild gerate bzw. was entstehe, erweise sich insofern als unvorhersehbar (125). Wie sehr das Bild von den Lesweisen des Betrachters abhängt, darauf verweist auch Iris Laner. Im inneren Spannungs- bzw. Zeitfeld des Rezipienten von Vergangenem (Retention), Zukünftigem (Pretention) gewinne die Urimpression (Jetzt) an Bedeutung (Husserl, 129-135, hier 133). Identität und damit Geschichtlichkeit bekomme diese Erfahrung durch die "Iterabilität", der Wiedererinnerung des Ereignisses (135-138). Diese müsse jedoch immer wieder neu in den diversen Wiederholungszusammenhängen gestiftet werden (Derrida, 138). Identität, auch die fotografische, gleiche insofern einem Prozess der Ausverhandlung (141-147). Wird schließlich das eigene Ich, das Selbst, als ein Ereignis verstanden, das sich Selbst in der Erscheinung zu erfassen versucht, so kann dieses Anliegen nur scheitern, so Rainer Sepp. Wir verlieren uns im schönen Schein (151-159). Selbst das Zusammenspinnen der Ereignisse zu Geschichte, vermag keinen identitätsstiftenden Sinn zu vermitteln (162). Dem entgegen vermögen gerade Verfremdungen der Erscheinungen des Selbst, wie sie etwa in Fotografien von Mark Morrisroe auftreten, die eigene Existenz spürbar zu machen (163). Dass über die ästhetische Erfahrung an unzugängliche, mit Gewalt verbundene Erfahrungen angerührt werden kann, sei, laut Iris Därmann, seit der Antike Thema. Es seien der Tod, das Begehren und das Trauma, die über sie verarbeitet werden können, indem sie in Schmerzlust (Freud), negativer Lust (Kant) und schockierenden Wirkungen (Benjamin) "derealisiert" und damit gefahrlos neutralisiert werden können, "bevor man die Grenze(n, M.S.) selbst passiert" (182).
Das Ereignis, so gilt es gemeinhin, ist nicht wiederholbar und steht insofern im Gegensatz zu Permanenz und Beständigkeit. Wird Letzteres dem entgegen selbst als Ereignis begriffen, wie es exemplarisch die Beiträge der Anthologie vorstellen und wie es abschließend Claude Romano nochmals aufzeigt, dann rücken die Prozesse der Aneignung der Ereignisse in den Blickpunkt (192). Der Mensch wird damit zum leiblich-praktischen Akteur in der Welt der Tatsachen bzw. Möglichkeiten (200). Damit schließt sich der Kreis und es stellt sich weiterführend die Frage, ob die Erscheinungen (Bilder), die der Mensch aus diesem Tun hervorbringt, auch Teil eines Kommunikations- bzw. Kulturprozesses sein können, wie es ansatzweise Schürmann vorstellt. [2]
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu Gottfried Boehm: Bild und Zeit, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Hannelore Paflik, Weinheim 1987, 1-23, insb. 22; sowie ergänzend Max Imdahl: Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur, München 1979, 14-15.
[2] Vgl. hierzu auch Martina Sauer: Faszination und Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2012/1851/.
Martina Sauer