Hubert Wolf (Hg.): Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland. Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem internationalen Vergleich (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 121), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 325 S., ISBN 978-3-506-77314-2, EUR 44,90
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Das Pontifikat Pius' XII. (1939-1958) steht wie keine andere päpstliche Amtszeit des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des neuzeit- und kirchengeschichtlichen Forschungsinteresses. Mit großer Spannung wird deshalb die für 2014/15 angekündigte Öffnung der einschlägigen Archivbestände des Vatikanischen Geheimarchivs zum Pacelli-Papst erwartet. Noch aber sind Historiker mit der Auswertung der 2003 und 2006 freigegebenen Aktenbestände zum Pontifikat seines Vorgängers Pius XI. (1922-1939) beschäftigt, in das die Amtszeiten Eugenio Pacellis als Nuntius in Deutschland (1917-1929) und als Kardinalstaatssekretär an der römischen Kurie (1930-1939) fielen. Ein Forscherteam um den Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat es sich zur Aufgabe gemacht, die mehr als 6.500 von Pacelli nach Rom gesandten Nuntiaturberichte - nebst ihren Entwürfen - auszuwerten und in einer kritischen Datenbankedition zugänglich zu machen. [1] Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung dieses DFG-Langzeitprojekts im März 2010 in Münster zurück.
In seiner Einleitung hebt Wolf die neuen Forschungsperspektiven hervor, die auf Basis der Berichte Pacellis eröffnet werden. Zum einen erlauben sie Aufschlüsse zur Sicht des päpstlichen Nuntius und der römischen Kurie auf die politischen und kirchlichen Entwicklungen im Deutschen Reich, was Wolf - in Anlehnung an David G. Schultenover - als "'view from Rome' auf Deutschland" (25) bezeichnet. Zum anderen gewähren sie Einsichten in die Persönlichkeit Pacellis, seine Arbeits- und Schreibweise, seinen Charakter und die möglichen Prägungen durch seine deutsche Umwelt.
Der Band liefert im zweiten Teil Schlaglichter auf die kirchenrechtlichen, theologischen und politischen Rahmenbedingungen innerhalb derer Pacelli als päpstlicher Botschafter agierte. Emma Fattorini etwa widmet sich der Friedensinitiative Benedikts XV. vom 1. August 1917, der ersten diplomatischen Aktion in die der neue Nuntius an entscheidender Stelle involviert war. [2] Der aus dem Italienischen ins Deutsche übertragene Beitrag leidet allerdings, wie auch andere Aufsätze des Bandes, unter seiner Übersetzung: Etwa dann, wenn aus der päpstlichen Friedensnote (italienisch: nota) eine "Notiz" (71 ff.) wird. Zudem wurde 1915 von den Mittelmächten nicht etwa versucht, die "Unabhängigkeit" (62) Italiens zu erlangen, sondern wohl eher dessen Neutralität. Ebenso fraglich ist, ob man die Zentrumspolitiker Matthias Erzberger oder an anderer Stelle Ludwig Windthorst dem italienischen Original entsprechend als "Leader" (83, 303) bezeichnen sollte.
Neue Erkenntnisse in einer nun fast schon ein halbes Jahrhundert andauernden Diskussion liefert Mark Ruff, wenngleich sein Beitrag zu Hochhuths "Stellvertreter" aus dem zeitlichen Rahmen des Bandes fällt. Sein breit archivgestützer und auf Interviews mit Zeitzeugen beruhender Aufsatz klärt über wichtige publizistische Strategien der Hochhuth-Gegner und -Unterstützer auf, wobei letztere den öffentlichen Diskurs erfolgreich dominierten und die Kirchenpresse in die Defensive drängten. Mit Hilfe erstmals erschlossener Quellen aus verschiedenen Kirchenarchiven und aus dem Archiv der Freien Volksbühne Berlin - dem Ort der Uraufführung des "Stellvertreters" - verortet Ruff die damals ausgelöste Kontroverse um Pius XII. in die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der frühen 1960er Jahre, als sich etwa im Zuge der NS-Prozesse eine neue moralische Bewertung der Vergangenheit ergab.
Im dritten Teil des Sammelbandes wird die Amtsführung anderer europäischer Nuntien der Pacelli-Zeit vergleichend gegenübergestellt. Neben traditionellen Vertretungen wie in Paris oder in Wien, werden mit Prag und Warschau auch zwei der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Nuntiaturen behandelt. Der von Emilia Hrabovec verfasste Beitrag zu den Nuntien in der Tschechoslowakei beleuchtet in besonderer Weise, wie sich die Papstbotschafter unter für den Katholizismus ungünstigen politischen und gesellschaftlichen Umständen zu bewähren hatten. Prag bietet deshalb eine besonders interessante Vergleichsfolie zur Nuntiaturzeit Pacellis, weil auch er sich in den Wirren der Münchner Revolutionszeit 1918/19 und später in Berlin in einer protestantischen Mehrheitsgesellschaft behaupten musste. Mit dem Warschauer Nuntius Achille Ratti (amtierte von 1918/19 bis 1921) wird im Beitrag von Stanislaw Wilk der erste von drei katholischen Diplomaten vorgestellt, die im 20. Jahrhundert zum Papst gewählt werden sollten. Auf ihn als Pius XI., folgten Pacelli als Pius XII. und Angelo Roncalli - von 1945 bis 1952 Nuntius in Paris - als Johannes XXIII. (1958-1963).
Rupert Klieber stellt die Ergebnisse eines anderen quellengestützten Großprojektes in Österreich vor, dass ebenfalls auf die Öffnung der Aktenbestände zum Pontifikat Pius XI. zurückgeht. [3] Wobei Klieber in seinem Beitrag zur Wiener Nuntiatur mit Blick auf den dortigen Nuntius Enrico Sibilia (amtierte von 1923 bis 1936) unumwunden einräumt: "Nicht alle Botschafter des Heiligen Stuhls verfügten offenkundig über den Fleiß und die Fähigkeiten eines Eugenio Pacelli, um so viel forscherisches Aufhebens um ihre Berichte zu machen" (142).
Der letzte Teil des Sammelbandes stellt die Rolle der katholischen Parteien in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zu den päpstlichen Nuntiaturen und dem Vatikan in den Mittelpunkt der Beiträge, die sich mit der Situation im Deutschen Reich, in der Schweiz, in Österreich, in der Tschechoslowakei und in Italien beschäftigen. Besonders aufschlussreich für die Tätigkeit des Nuntius Pacelli ist der Beitrag von Karsten Ruppert, der die Geschichte der Zentrumspartei in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zu den deutschen Bischöfen und zum Vatikan eingehend behandelt. Urs Altermatt kommt in seinem luziden Beitrag zur Rolle des politischen Katholizismus in der Schweiz zu dem prononcierten Urteil: "Was die Judenmorde anging, kann man wegen des langen Schweigens von einem moralischen Versagen des Episkopates sprechen" (253 f.).
Der englischsprachige zusammenfassende "Summary" aller Beiträge am Schluss hätte durchaus auch in einer deutschen Übersetzung den Band bereichert - wenngleich hier für Pius X. (1903-1914) eine falsche Amtszeit im Text angegeben ist (311).
Für die zukünftige Beschäftigung mit der Biographie und mit der historischen Rolle Eugenio Pacellis im "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) schafft der Band ein gutes Fundament. Er gewährt darüber hinaus Erkenntnisse zur Entscheidungsfindung zwischen dem Heiligen Stuhl und seinen Nuntiaturen in den europäischen Hauptstädten und offenbart ein zunehmend autokratisches Verhältnis von Papst und Staatssekretariat gegenüber ihren diplomatischen Vertretungen. Zugleich liefert der Band Forschungsimpulse für einen internationalen Vergleich der Nuntiaturen und der katholischen Parteien im Europa der Zwischenkriegszeit. Schließlich stellt er im Hinblick auf Fragen der internen kurialen Urteilsbildung zu den vielfältigen politischen Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein unverzichtbares Grundlagenwerk dar.
Anmerkungen:
[1] http://www.pacelli-edition.de [20.5.2012]
[2] Leider enthält der Beitrag keine Quellennachweise, so dass für den wissenschaftlichen Zugriff besser geeignet ist: Hubert Wolf: Der Papst als Mediator? Die Friedensinitiative Benedikts XV. von 1917 und Nuntius Pacelli, in: Gerd Althoff (Hg.): Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011, 167-220.
[3] http://piusxi.univie.ac.at/ [20.5.2012]
René Schlott