Gillian Weiss: Captives and Corsairs. France and Slavery in the Early Modern Mediterranean, Stanford, CA: Stanford University Press 2011, XV + 389 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-0-8047-7000-2, USD 65,00
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Eines der bekanntesten Gemälde im Louvre in Paris ist Das Floß der Medusa, das Théodore Géricault 1819 nach einer wahren Begebenheit malte. Wenige Jahre zuvor, im Sommer 1816, war die Medusa aus Rochefort an der französischen Atlantikküste ausgelaufen. Knapp drei Wochen später strandete das Schiff vor der Küste des Senegal und die Menschen an Bord mussten das Wrack verlassen. Zwei Wochen langen trieben die Schiffbrüchigen in Booten und auf einem notdürftig zusammengezimmerten Floß auf dem Meer. Kannibalismus und Mord ereigneten sich, und machten das Unglück zu einer sensationellen Nachricht daheim. Letztlich langten nur fünfzehn Überlebende am afrikanischen Festland an. Wie Gillian Weiss in ihrer hervorragenden neuen Arbeit darlegt (141-143), bedeutete das allerdings noch längst nicht das Ende ihrer Abenteuer. Nach Tagen des Herumirrens wurden sie schließlich von lokalen "Mauren" gefangen genommen, aus deren Hand sie kurz darauf von einem englischen Kapitän freigekauft und nach Europa zurückgebracht wurden.
Diese berühmte Episode des Handels mit Menschen, genauer gesagt mit europäischen Schiffbrüchigen, die in die Hand nordafrikanischer Muslime gefallen waren, steht historisch, wie Weiss herausarbeitet, an einer Scharnierstelle. Einerseits ging der Raub von Europäern durch Nordafrikaner bis ins Mittelalter zurück. Weiss greift diese Geschichte im 16. Jahrhundert auf. Die Gefangensetzung und der Verkauf der Überlebenden der Medusa stand in einer jahrhundertealten Tradition. Der Menschenhandel im Mittelmeer war dabei immer reziprok gewesen: Christen verschleppten Muslime, Muslime entführten Christen. Die Motive waren unterschiedlicher Natur: teils ging es um die Arbeitskraft wie im Fall der muslimischen Sklaven auf französischen Galeeren; teils ging es um Erpressung von Lösegeldern, wie für viele Freikäufe von Europäern aus nordafrikanischen bagnes bezeugt. Andererseits veränderte sich diese jahrhundertealte Praxis am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entscheidend. Aus "Christen und Muslimen" wurden "Weiße und Schwarze", nicht zuletzt als Rückwirkung der transatlantischen Sklaverei auf die mittelmeerisch-nordafrikanische Welt. Hinzu kam, wie von Weiss mustergültig herausgearbeitet wird, dass sich ab den 1820er Jahren das Schicksal der (mittlerweile nur noch verhältnismäßig wenigen) abendländischen Gefangenen in nordafrikanischen Hafenstädten mit der Deutung des griechischen Freiheitskampfes vermischte. Es ging nun auch um zivilisatorische Unterschiede, die zudem dadurch mit neuer Aufladung versehen wurden, dass sich das Bild vom europäischen Sklaven hin zur europäischen Sklavin veränderte. Der französische Entschluss zur militärischen Eroberung Algiers 1830, der als Einschreiten gegen kontinuierliche Versklavungspraktiken dargestellt wurde, folgte damit einer Deutungsmatrix der nordafrikanischen Verhältnisse, die trotz vielfältiger historischer Tiefenschichten letztlich auf einer neuen Form imperialer Ideologie in Frankreich basierte. Aus dem Engagement für christliche Gefangene in muslimischen Händen war ein zivilisatorischer Auftrag geworden, der die langfristige Besetzung durch Frankreich legitimierte (156-170).
Mit der hier anzuzeigenden Arbeit kann der Leser diese Geschichte in der longue durée nachverfolgen, wobei sie sich vor allem der Versklavung von Europäern durch Afrikaner widmet. Weiss setzt in der Frühen Neuzeit ein und skizziert anschaulich die Umstände der wechselseitigen Versklavungen sowie die verschiedenen Formen der Gefangenenbefreiung, die man in Frankreich kannte. Den Königen wird dabei die längste Zeit ein allenfalls sporadisches Interesse an ihren Untertanen in Nordafrika zugebilligt. Stärker ausgeprägt war die gut institutionalisierte Anteilnahme der katholischen Kirche, die in Gestalt verschiedener Orden den Rückkauf betrieb. Besonders hervorzuheben ist laut Weiss außerdem das private Engagement der Familien und Freunde einzelner Betroffener. Vieles von dem, was hier vorgeführt wird, ist durchaus schon bekannt, doch Weiss synthetisiert das vorhandene Wissen in vorbildlicher Form. Anderes ist bisher kaum behandelt worden, etwa die Tatsache, dass sowohl Trinitarier- wie Mercedinarierorden nach erfolgreichen Rückkaufaktionen die befreiten Sklaven in oft monatelangen Prozessionen durch Frankreich führten, um ihre eigene Leistung für das katholische Frankreich zu propagieren (37-46; 212-220). Religiöse Reinheit und die Loyalität zum Königshaus wurden in diesen Spektakeln ebenfalls zum Ausdruck gebracht. Der Umgang mit den verschleppten Franzosen war und blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein auf diese Art und Weise eine Projektionsfläche für verschiedene französische Selbstbilder. Immer wieder tauchten deshalb praktische Fragen danach auf, welche der abendländischen Gefangenen in muslimischer Hand eigentlich als "Franzosen", als "Katholiken" und als "Sklaven" gelten könnten. Politische Prioritäten und diskursive Unschärfen beeinflussten immer wieder das konkrete Schicksal einzelner Europäer in nordafrikanischen Fesseln.
Das Buch von Weiss verfolgt das Thema in chronologischer Ordnung. Vor der großen eingangs angesprochenen Veränderung im 19. Jahrhundert waren es vor allem situative und relativ kurzfristige Umstände, welche die französische Reaktion auf die immer neuen Nachrichten und Bittschriften aus Tunis, Algier oder Marokko beeinflussten. Eine konsistente Politik der Monarchen in Paris lässt sich kaum erkennen. Darstellerisch gesehen reihen sich deshalb in Captives and Corsairs oft ähnliche Einzelepisoden von Entführungen und Freikaufaktionen aneinander, deren politische Bedingungen die Autorin dann herausarbeitet. Obwohl sie immer wieder zu größeren Thesen ansetzt, bleibt es manchmal etwas mühsam, der Autorin durch die Vielzahl der oft nur kurz angedeuteten Einzelepisoden zu folgen, zumal viele von ihnen eine ähnliche Struktur haben.
Weiss hat einen beinahe unerschöpflichen Vorrat an Beispielen und Geschichten zusammengetragen, von denen sie möglichst viele in ihrem Buch unterbringen möchte. Dabei entsteht ein eigenartiges Ungleichgewicht in diesem Buch. Auf 171 Seiten reinen Text folgen 200 Seiten dokumentarische Anhänge (incl. Endnoten und Bibliographie). Nach Ausweis der Endnoten hat Weiss umfangreiche Archivarbeit betrieben, auch wenn ein erheblicher Anteil der historischen Beispiele bereits in der Literatur mitgeteilt worden ist, oft in älteren und entlegenen Publikationen. Manche ihrer zahllosen Beispielepisoden hätten deutlich mehr Raum zur Entfaltung verdient, manche Aussagen der Autorin etwa über narrative Strukturen einzelner Texte erscheinen arg komprimiert, da der Raum für längere Zitate und ausführlichere Analysen offenbar eingespart werden musste. Im Grunde genommen würde man sich wünschen, Weiss hätte mehr Text geschrieben und den dokumentarischen Reichtum aus den Endnoten zumindest teilweise in die Darstellung verlagert.
Dies ist das Buch einer Historikerin. Erkenntnisse und Fragestellungen benachbarter Disziplinen zum Thema bleiben weitgehend außen vor. Gerade am Ende werden immerhin mehrfach künstlerische Darstellungen französischer Maler berücksichtigt. Literaturwissenschaftlich inspirierte Überlegungen zur Selbstdarstellung der Sklaven in Bittschriften oder gedruckten Sklavereiberichten finden sich dagegen nur punktuell. Insbesondere finden sich kaum Ansätze zu einer anthropologischen Verortung der mittelmeerischen Sklaverei in den nordafrikanischen Kulturen. Auch das Thema 'Islam und Sklaverei' bleibt weitestgehend außen vor. Doch wer an den historischen Veränderungen und Konstanten, an der Wahrnehmung und den Alltagserfahrungen in Sachen nordafrikanischer Verschleppung von Franzosen interessiert ist, wird in Zukunft unbedingt zu dieser neuen, hervorragend recherchierten und klar strukturierten Arbeit von Gillian Weiss greifen müssen.
Markus Friedrich