Päivi Räisänen: Ketzer im Dorf. Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 21), Konstanz: UVK 2011, 369 S., ISBN 978-3-86764-255-2, EUR 34,00
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Die Dissertation von Päivi Räisänen, 2009 in Göttingen eingereicht, rückt die täuferische Bewegung Württembergs - präzise: im Amt Schorndorf mit seinen ca. 4200 Einwohnern - in den Mittelpunkt. Für die Zeit zwischen 1570 und circa 1620 erzählen die dortigen Visitationsberichte von einer bemerkenswerten Anzahl von Täufern in der Region. Diese seien von einem sich immer weiter ausdifferenzierenden Verwaltungsapparat verzeichnet und kategorisiert worden (19), bevor in der Täuferordnung von 1571 nicht nur die Eigenschaften und Kennzeichen der Täufer, sondern auch der Umgang mit religiös deviantem Verhalten festgeschrieben worden seien.
Ausgehend von dieser Beobachtung zielt die Studie darauf, die Beteiligten der Visitation zu benennen - und auf diese Weise deutlich zu machen, dass hier quasi wie auf einem "Spielfeld" oder in einem "Kommunikationsforum" (18) Regeln geschaffen wurden, nach denen mit den Täufern umzugehen war. Dabei brachten die Akteure nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die Aufträge und Aufgaben ein, die ihnen qua Amt oder Funktion für dieses "Spiel" zugeteilt waren. So versuchten fortan Normengeber, Normenanwender und Normenempfänger (17), einen lebbaren Kompromiss für die jeweils betroffene Gemeinde bzw. die Menschen auszuhandeln, die unter dem Verdacht standen, Täufer zu sein. Auf diese Weise wurden mutmaßliche Täufer zum "Diskussionsgegenstand" und bisweilen auch zur "Projektionsfläche" unterschiedlicher Vorstellungen vom Täufertum, so dass sich nach Räisänen die Frage aufdränge, ob durch zahlreiche Zuschreibungen, Interessen und Erwartungen innerhalb dieses Aushandlungsprozesses Täufer nicht erst durch die Visitation "entstünden", also im Visitationsverfahren geradezu "gemacht" würden (15). Diesen steilen Ansatz, der im Grunde danach fragt, ob es die Täufer überhaupt gegeben hat, relativiert Räisänen in einem zweiten Schritt, indem sie betont, dass Täufer selbstredend auch jenseits der Visitationen existierten. Gleichwohl - und dies ist ihr Ansatzpunkt für weitere Fragen - hätten die Täufer sich innerhalb ihrer eigenen Netzwerke andere Eigenschaften und Bedeutungen zugeschrieben, als es durch die Obrigkeiten erfolgt sei.
Um das "Kommunikationsforum Visitation" mit all seinen Interessen und Verhandlungen in den Blick zu bekommen, bestimmt Räisänen zunächst das "Setting" der Visitationen: Die Herzöge Ulrich und Christoph sorgten in ihren jeweiligen Regierungszeiten für umfassende Reformen in Württemberg: Visitationsordnungen wurden verabschiedet (1535, 1547, 1553), es folgte 1559 die Große Kirchenordnung, aber wesentlich war die - wohl auf Johannes Brenz zurückgehende - Entscheidung, bei der Täuferbekämpfung nicht die Todesstrafe anzuwenden (74). Um die Bedrohung für die lutherische Obrigkeit abzuwehren und zugleich politisches Handeln auf der Gemeindeebene einzuüben (209), setzte die Obrigkeit lieber auf bisweilen langwierige Verhandlungen, auf "Besserung" der mutmaßlichen Täufer und auf deren Wiedereingliederung in den Untertanenverband.
In diese Verhandlungen flossen zuallererst die Vorstellungen ein, welche die Obrigkeit von den Täufern hatte. Diese Auffassungen waren durchaus differenziert und forderten von allen Akteuren ein bemerkenswertes Maß an Kompromissbereitschaft bei der Erstellung der Täuferordnung von 1571, wie Räisänens Auseinandersetzung mit einem Protokoll zeigt, welches im Vorfeld der Ordnung entstand (112-115). Überdies galt es, den örtlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, um so den Frieden vor Ort zu erhalten: In den Dörfern gab es nicht nur Menschen, die sich deutlich zum Täufertum bekannten, sondern eben auch Sympathisanten, die die Täufer zu den veritablen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft zählten, zumal diese ja zum Teil aus der eigenen Verwandtschaft kamen. Wenn es also das Ziel war, die Macht der Obrigkeit sowohl tatsächlich als auch symbolisch zu erhalten, durften lokale Beziehungsgeflechte nicht durch überharte Sanktionen zerstört und so Widerstand herausgefordert werden (152). Vor diesem Hintergrund nimmt sich Räisänen viel Raum, um die Interessen und Gegebenheiten in den Gemeinden zu untersuchen. Dabei stehen besonders die lokalen Kirchendiener und Schultheißen im Mittelpunkt, weil diese sowohl der territorialen Obrigkeit als auch der Ortsgemeinschaft verpflichtet waren. Dies machte sie zur Projektionsfläche von Erwartungen beim Umgang mit Täufern. Sie hatten überdies direkt mit den Menschen zu tun, die verdächtigt wurden, zu den Täufern zu gehören. Insofern waren sie es auch, die mit den unterschiedlichen Strategien der mutmaßlichen Täufer konfrontiert wurden, wenn es darum ging, sich der obrigkeitlichen Untersuchung zu entziehen. Räisänen untersucht in diesem wichtigsten Teil ihrer Studie nicht nur das Abstreiten aller Vorwürfe durch die Verdächtigen, sondern erkennt auch Strategien der Verschleierung, Verharmlosung und der vagen Versprechen. Auch kann sie deutlich machen, wie Täufer und Verdächtige die Amtswege nutzten, um sich zu verteidigen: Supplikationen und Gnadenersuche erschienen als probates Mittel, um das Verfahren aufzuhalten und dessen Ausgang neu zu bestimmen.
Deutlich wird sowohl in diesem Kapitel (255-323) als auch in den Auseinandersetzungen mit den lokalen Kirchendienern (211-232), wie arbeits- und zeitintensiv das "Spiel" im "Kommunikationsforum Visitation" werden konnte, sofern die Obrigkeit an ihrer Intention festhielt, den potentiellen Täufer nicht hinzurichten, sondern mittel- und langfristig wieder in die lutherische Gemeinde einzugliedern. Abgerundet wird die Arbeit durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie eine Transkription der Täuferordnung von 1571 und zwei Fragenkataloge aus der Ordnung von 1536 und 1571. Auf ein Register ist verzichtet worden.
Die Studie besticht insgesamt durch ihren Versuch, auch Untersuchungen über das Täufertum vom "cultural turn" profitieren zu lassen. Sie fragt nach der symbolischen Dimension von Herrschaft, die durch Verhandlungen während der Visitationen etabliert und geschützt werden sollte - und bringt auf diese Weise aktuelle Forschungsansätze zu Herrschaft und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit mit der Täuferforschung zusammen, die nach der revisionistischen Wende diesen Impuls gut aufnehmen kann. Angesichts dieser intensiven Beschäftigung mit der Forschung erhalten die Quellen an manchen Stellen einen eher illustrierenden Charakter, bevor dann aus ihnen heraus neue Impulse gesetzt werden - wie etwa bei der Untersuchung der Untervögte und deren Rolle im Aushandlungsprozess oder beim Blick in die Gemeinden im letzten Kapitel. In nachfolgenden - durchaus mikrokosmischen - Studien zum Täufertum und Visitationswesen in der Frühen Neuzeit wäre das hier beschriebene Spiel der Mächte und Interessen vertiefend fruchtbar zu machen. Untersuchungen oder Forschungen über Indifferenz und Eigensinn in der Gemeinde sowie über Geschlechterbeziehungen und religiöse Devianz sind in Räisänens Studie eher nur angeklungen, könnten aber ebenfalls von dem methodischen Ansatz profitieren, der zwar nach der konkreten und symbolischen Ausgestaltung von Herrschaft fragt, aber dabei nicht vergisst, dass jede Gemeinschaft (ob im Dorf oder in der Stadt) auch ihre eigenen Regeln hat, die gewahrt werden wollen.
Nicole Grochowina