Shelley Baranowski: Nazi Empire. German Colonialism and Imperialism from Bismarck to Hitler, Cambridge: Cambridge University Press 2011, XII + 368 S., ISBN 978-0-521-67408-9, GBP 17,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Friedrich-Ebert-Stiftung / Institut für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn (Hg.): Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2004
Gianluca Falanga: Mussolinis Vorposten in Hitlers Reich. Italiens Politik in Berlin 1933-1945, Berlin: Ch. Links Verlag 2008
Luca Baldissara / Paolo Pezzino (a cura di): Giudicare e punire. I processi per crimini di guerra tra diritto e politica, Neapel: L'Ancora Del Mediterraneo 2005
Der Holocaust ist vollständig nur zu verstehen, wenn man Imperialismus und Kolonialismus mit bedenkt. Auf diese These lässt sich das neueste Buch von Shelley Baranowski bringen. Ihr geht es allerdings nicht darum, personelle und institutionelle Verbindungslinien zwischen den kaiserlichen Kolonialverbrechen in Deutsch-Südwest-Afrika und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs aufzuzeigen, wie das vor allem Jürgen Zimmerer getan hat .[1] Die an der University of Akron lehrende Historikerin holt viel weiter aus und versteht den Holocaust als die extremste Antwort auf ein von ihr diagnostiziertes europäisches Problem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: die Spannung zwischen den Empires und der damit verbundenen Idee von Heterogenität auf der einen Seite und dem Kampf um ethnische und ideologische Homogenität im Rahmen der Nationalstaaten auf der anderen Seite.
Nach Baranowski waren es eben jene Sehnsucht nach Homogenität sowie der Wille, neuen "Lebensraum" zu erschließen und so das biologische Überleben des deutschen Volkes zu sichern, die die Zeit zwischen 1871 und 1945 trotz der tiefgreifenden politischen Umbrüche und des Verlustes der deutschen Überseeterritorien zu einer Einheit formten. Beide Tendenzen waren nach Baranowski im Reich viel stärker als in anderen Staaten verbreitet; sie führt dies auf die historisch bedingte Angst zurück, von fremden Nationen dominiert zu werden. Diese Angst manifestierte sich in der Einkreisungsparanoia des jungen Kaiserreichs, richtete sich schließlich auch gegen "innere Feinde" wie polnische Wanderarbeiter und schien sich dann nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg voll zu bestätigen, als Deutschland nicht nur seine Kolonien verlor, sondern das Mutterland zudem wirtschaftlich, militärisch und politisch von den Alliierten kontrolliert wurde. Der Massenmord an Russen, Polen und Juden war aus dieser Perspektive das Ergebnis der "unvollendeten" Einheit von 1871, der Niederlage von 1918 und der Krise der Zwischenkriegszeit (S. 7). Damit verliert für Baranowski der Holocaust seine Einzigartigkeit, er wird vielmehr "europäisiert".
Baranowski führt diese These in sechs Kapiteln aus. Bemerkenswert ist, wie sehr sie dabei die Unterschiede zwischen den vor und nach 1933 entwickelten Imperialismuskonzeptionen betont. So weist sie darauf hin, dass die Nationalsozialisten die kolonialen Anstrengungen des Kaiserreichs als völlig verfehlt ansahen und insbesondere kritisierten, dass imperiales Ausgreifen niemals ökonomischen, sondern immer nur rassischen Zielsetzungen dienen dürfe. "Rassische Reinheit" war demnach der Hauptgedanke nationalsozialistischer Konzeptionen von "Lebensraum", der einerseits durch ethnische "Säuberungen", andererseits durch groß angelegte Siedlungsprogramme verwirklicht werden sollte.
Positiv hervorzuheben ist Baranowskis Bemühen, der "drohenden Verinselung" [2] der Holocaustforschung durch eine Weitung der Perspektive zu begegnen und die Geschichte des Nationalsozialismus stärker in einen europäischen Bezugsrahmen zu setzen. Diese Perspektive erfreut sich zunehmender Beliebtheit und hat auch bereits Eingang in deutschsprachige Gesamtdarstellungen gefunden. [3]
Zugleich hat sich Baranowski mit diesem Narrativ allerdings gleich mehrere unübersehbare argumentative Probleme geschaffen. Das wohl gravierendste ist, erklären zu müssen, welchen Nutzen Begriffe wie Imperium und Kolonialismus als übergreifende Analysekategorien überhaupt noch haben, wenn die Unterschiede in den Leitgedanken des imperialen Ausgreifens so gravierend sind. Das deutsche Kaiserreich war ein heterogenes Gebilde, dagegen hatten die Nationalsozialisten ein ethnisch homogenes Imperium im Sinn.
Ein möglicher Ausweg wäre gewesen, das Moment des Wandels viel stärker zu akzentuieren und eine Deutung aufzugreifen, die Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel vor einiger Zeit vorgeschlagen haben: Den beiden Globalhistorikern zufolge entwickelten sich in der Zwischenkriegszeit neue Formen kolonialer und imperialistischer Beherrschung, so zunächst im faschistischen Italien und im kaiserlichen Japan. Wie Osterhammel und Conrad dabei deutlich gemacht haben, verfolgten die beiden Diktaturen in starker Abgrenzung zum traditionellen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts die Idee eines völlig vom Staat gelenkten Siedlungskolonialismus, der den Transfer von Millionen von Kolonisten vorsah, sich zudem in deutlich stärkerem Maße auf rassistische Ideologeme stützte und mit Massengewalt gegenüber der einheimischen Bevölkerung einherging.[4] Man denke hier nur an den italienischen Krieg gegen Abessinien, dem Schätzungen zufolge bis zu 750.000 Menschen durch Repressalien, Deportationen und dem massiven Einsatz von Giftgas zum Opfer fielen. Das Ausgreifen des nationalsozialistischen Deutschland auf Osteuropa wäre demnach als Extremform dieses neuen Siedlungskolonialismus zu verstehen, wobei allerdings noch genau zu überlegen wäre, ob der Holocaust sich in dieses Konzept einfügen lässt oder eben doch ein Unikum darstellt. Immerhin gehörte die Ermordung der Juden von Anfang an zu den Kriegszielen des NS-Staates, während in Abessinien Massenverbrechen an äthiopischen Soldaten und Zivilisten erst nach und nach erfolgten und auch nicht auf die Vernichtung der gesamten Bevölkerung zielten.
Ein solches komparatives Vorgehen hätte zudem den Vorzug gehabt, der starken Konzentration auf Deutschland zu entgehen - trotz vereinzelter kontrastierender Einstreuungen hat nämlich Baranowski letztlich eine rein auf Deutschland zentrierte Darstellung vorgelegt. Obwohl sie der Sonderwegsthese ausdrücklich abschwört, hat sie diese letztlich wiederaufgelegt, indem sie zur Erklärung der extrem brutalen Gewaltherrschaft in Osteuropa von besonderen deutschen Erfahrungen ausgeht.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Rezensent hält die gewählte Perspektive, den Nationalsozialismus unter dem Aspekt von Imperialismus und Kolonialismus zu betrachten, grundsätzlich für ausgesprochen fruchtbar. Die konkrete Konzeptionalisierung dieser Idee ist jedoch nicht überzeugend. Hier hätten zum einen die Dimensionen Zeit und Wandel viel stärkere Beachtung finden müssen, zum anderen wäre die Geschichte der deutschen Expansion in den internationalen Kontext einzubetten gewesen, der sich eben nicht auf Europa beschränkt, sondern Afrika und Asien miteinschließt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Jürgen Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin u.a. 2011.
[2] Andreas Wirsching: Vom "Lehrstück Weimar" zum Lehrstück Holocaust?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-3 (2012), 9-14.
[3] Vgl. Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München 2011.
[4] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2010, 606.
Patrick Bernhard