Uwe A. Oster: Sein Leben war das traurigste der Welt. Friedrich II. und der Kampf mit seinem Vater, München / Zürich: Piper Verlag 2011, 285 S., mit 24 Farbabb., ISBN 978-3-492-05411-9, EUR 19,99
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Unter den Ereignissen, die im öffentlichen Gedenken mit Friedrich II. in Verbindung gebracht werden, nimmt sein Fluchtversuch nach England einen besonderen Platz ein. Neben seinen Zusammentreffen mit Voltaire, seinem Flötenspiel und der Vorliebe für Windhunde wird in vielen Darstellungen und Filmen immer wieder darauf sowie auf seine anschließende Gefangenschaft in Küstrin Bezug genommen. Das geschieht nicht zu Unrecht, insofern es sich um eine Schlüsselepisode in Friedrichs Leben handelt. Immerhin versucht er, der Kronprinz Preußens, sein Land zu verlassen, wird festgenommen, in entbehrungsreicher Festungshaft verwahrt, aus der Armee entlassen, monatelang von der Außenwelt abgeschirmt und muss befürchten, als Deserteur hingerichtet zu werden. Auch wenn es so weit nicht kommt, ist das wohl der Höhepunkt im Konflikt mit seinem Vater, einem Konflikt zweier höchst unterschiedlicher Charaktere: Einem sparsamen, strengen und im mehrfachen Wortsinne preußischen König stand sein frankophiler Sohn gegenüber, der sich ästhetischer und philosophischer Bildung widmen wollte, Luxus nicht abgeneigt war und sich gegen seinen übermächtigen Vater zu behaupten suchte.
Uwe Oster hat dem "Kampf", so der Titel, zwischen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. im Piper-Verlag jetzt ein Buch gewidmet und dabei die Flucht- und Haftumstände ebenfalls ins Zentrum gestellt. Mit zwei Kapiteln (3-4) nehmen sie den Hauptteil auf mehr als 100 Seiten ein. Oster beschreibt den jungen Friedrich hier als gleichzeitig naiven und stürmischen, persönlich und finanziell vielfach eingeengten Offizier, der sich nur seiner älteren Schwester Wilhelmine anvertrauen kann und sich schließlich verschiedenen Ratgebern zum Trotz entschließt, der Überwachung seines Vaters aus privaten Gründen zu entfliehen. Friedrich Wilhelm auf der anderen Seite wird als prinzipientreu, cholerisch und gefühlskalt beschrieben, der als König nur das Wohl seines Landes, nicht aber seine Familie im Auge hat und das Kriegsgericht deshalb zu einem harten Urteil für seinen Sohn zu drängen versucht, erst spät einlenkt und nur Katte, Friedrichs Helfer, töten lässt. Dieser Situation gehen viele Jahre von Missverständnissen und gegenseitigen Provokationen voraus, die von der Umgebung beider genau, aber hilflos beobachtet werden.
Oster schildert sowohl den Hergang des Fluchtversuches, aber auch die Konsequenzen und den Haftalltag. Ihn interessiert Friedrichs Wahrnehmung seiner Lehrjahre ebenso wie die Intentionen und Bewertungen Friedrich Wilhelms. Die Küstriner Zeit erscheint als Beginn einer Annäherung, in der sich Friedrich langsam fügt bzw. zunehmend lernt, strategisch auf den Vater zuzugehen, sich also konfliktpräventiv zu verhalten. Die restlichen Kapitel dienen der Rahmung dieses Prozesses: Am Anfang geht der Autor auf die Erziehung, vor allem die zu Spannung führenden Erwartungen ein (Kapitel 1), während Kapitel 5 und 6 die zunehmende Emanzipierung durch Heirat und eigene Hofhaltung vorstellen. Das zweite Kapitel fällt insofern heraus, als es den vor allem von Friedrichs Mutter verfolgten Plan einer Doppelhochzeit mit dem englischen Königshaus in extenso behandelt, ohne dass damit ein substanzieller Beitrag zum Thema geleistet wird. Auch wenn ein Resümee wünschenswert gewesen wäre (das Buch endet recht abrupt mit dem Tod Friedrich Wilhelms), schafft Oster es insgesamt, den Vater-Sohn-Konflikt anschaulich vorzustellen. Hauptquellen dafür sind Briefwechsel und Memoiren der Beteiligten. Die Ursachen des Konflikts werden daraus ebenso deutlich herausgearbeitet wie die verschiedenen Eskalationsstufen, die spannend und kenntnisreich erzählt sind. Am stärksten ist die Darstellung dort, wo sie die involvierten Personen und Parteien kontextualisiert und ihr Handeln auf diese Weise nachvollziehbar macht.
Oster ist bestrebt, Stationen facettenreich zu schildern. Das ist der Lesbarkeit zuträglich, führt manchmal aber zu weit vom eigentlichen Thema weg und ins Anekdotische hinein. Beispielhaft seinen nur die übermäßigen Details zur Ausstaffierung eines Festes in Dresden genannt, wo die Leserinnen und Leser im Kapitel zur Erziehung des Prinzen minuziös über die Zutaten informiert werden, die zum Backen eines Riesenkuchens nötig waren (61). Man kann sich auch fragen, ob die Vermutung, dass heutige Staatschefs im Gegensatz zu Friedrich Wilhelm den Butterpreis nicht kennen würden (151), erwähnt werden muss oder vordergründig und überflüssig ist. Ungünstig nehmen sich daneben auch die vielen langen Zitate aus, die nicht selten ganze Absätze bilden und dabei oft für selbsterklärend und authentisch gehalten werden, das heißt nicht interpretiert sind.
Hinzukommt, dass der Band stark an älteren Deutungen orientiert ist (Oster folgt häufiger Publikationen aus dem 19. - wie auch 18. Jahrhundert) und die Darstellung nicht an aktuelle Perspektiven der Forschung anschließt: Am auffälligsten ist das für die Geschlechterforschung. Sie zu berücksichtigen hätte sich angeboten, denn der beschriebene Adoleszenzkonflikt scheint auch ein Konflikt verschiedener Männlichkeitsmodelle gewesen zu sein. Treffen hier zwei Ausformungen patriarchaler Männlichkeit aufeinander - das (grob vereinfacht) hausväterlich-gewaltvolle, militärische Modell bei Friedrich Wilhelm und das aufgeklärt-ästhetische, gelehrte Modell bei Friedrich -, wäre eine Analyse unterschiedlicher Formen hegemonialer Männlichkeit reizvoll gewesen. Oster deutet die Bedeutung und das Konfliktpotenzial unterschiedlicher Geschlechternormen selbst an, etwa wenn davon die Rede ist, dass Friedrich nicht verweichlichen, sondern ein Soldat werden soll (40-41) und dafür ein Schreiben herangezogen wird, in dem Friedrich Wilhelm ausdrücklich vor "weiblichen Occupationes" (58) seines Sohnes warnt. Er weist auf die Rolle von Jagd, Tabakkolloquium und Alkoholkonsum hin (zum Beispiel 66) und darauf, dass Friedrich Wilhelm seinem Sohn gegenüber gewalttätig wird, ihm öffentlich die Ehre abschneidet und keine Milde zeigen kann (61, 78, 100). Für Friedrich zitiert er eine Passage zur untergeordneten Rolle von Ehefrauen von deren Realisierung der "Ehrennam[e] Mann", wie Friedrich formuliert, abhänge (201) und diskutiert seine mögliche Homosexualität, die der väterlichen Erwartung unter anderem nach Enkeln und Thronfolgern entgegengestanden habe (215-218). Diese Linien werden allerdings nicht systematisch verfolgt, und wenn sie angerissen werden, sind sie nicht geschlechtertheoretisch fundiert. Sich auf Männlichkeitskonstruktionen als Teil des zu untersuchenden Konflikts zu fokussieren war nicht das erklärte Ziel des Bandes und sie müssen auch nicht überstrapaziert werden, hätten aber sehr wahrscheinlich zur Erhellung der Vater-Sohn-Beziehung beitragen können - vielleicht sogar wesentlich. Dafür wäre es autorenseitig in einem ersten Schritt freilich nötig, sich von Klischees à la Krieg und Bier machen den "richtige[n] Mann" (66) zu distanzieren und die simple Opposition der "Memme" (40) aufzugeben.
Trotz der genannten Defizite ist Oster ein lesbarer Band für ein breiteres Publikum gelungen, der Ausgangspunkt für eine weitergehende Auseinandersetzung sein kann. Neben seinem flüssigen Stil tragen dazu die Übersetzungen fremdsprachiger Begriffe aus den Quellen und die 24 überwiegend farbigen Abbildungen (vor allem zu Familienangehörigen und historischen Schauplätzen) in guter Qualität bei. Für die geschichtswissenschaftliche Diskussion steht aber auch nach Osters Buch eine Arbeit zum Verhältnis Friedrichs II. zu seinem Vater aus, die sich aktiv am gegenwärtigen Forschungsstand abarbeitet und sich der geschlechtergeschichtlichen Dimension dieser Beziehung annimmt.
Falko Schnicke