Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 464 S., ISBN 978-3-506-77379-1, EUR 58,00
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Die Biographie über den langjährigen Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß geht auf eine am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin entstandene Dissertation zurück. Dem Verfasser Johannes Leicht geht es darum, "erstmals eine ideologiekritische und quellenbasierte Studie über das politische Wirken von Claß zwischen Kaiserreich und NS-Regime" (32) vorzulegen.
In seiner anschaulich in fünf Hauptkapitel gegliederten Studie verfolgt der Verfasser die Absicht, die Rolle Claß' als "politisch-gesellschaftlicher Multiplikator von nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Denkfiguren [...] in Relation mit seinem konkreten strukturellen, organisatorischen und finanziellen Wirkungspotential" (16) darzulegen. Neben der Auswertung von Claß' eigenen Schriften hat der Verfasser eine Vielzahl von Nachlässen der Zeitgenossen ausgewertet. Claß' eigener Nachlass ist von ihm selbst bis auf wenige Reste genau wie das alldeutsche Verbandsarchiv vor der angeordneten Übergabe ins Reichsarchiv 1942 vernichtet worden.
Das erste Hauptkapitel integriert Claß vor dem Hintergrund seiner eigenen Sozialisation hin zum radikalen Nationalismus. (39-98) In der Biographie orientiert sich Leicht an dem von Karl Mannheim entwickelten dreistufigen Modell der Biographie, die neben der Kohortenzugehörigkeit und die Zeitzeugenschaft einer bestimmten Generation auch auf die verschiedenartigen Interpretationen bestimmter Erfahrungen rekurriert. In diesem Sinne versteht Leicht Claß als beispielhaft für seine Generation. (20) Darüber hinaus integriert der Verfasser Claß in den Kontext eines mentalitätsgeschichtlichen Zugriffes, der auf den nach Norbert Elias so bezeichneten Interdependenzen basiert. (24)
Auf Grundlage dieser Zugriffe ist es möglich, Claß als Mitglied derjenigen Generation aufzufassen, die den Einigungsprozess Deutschlands hin zur Proklamation des Kaiserreiches 1871 nicht mehr selbst bewusst miterlebt hatte. Was sich für die Generation zuvor mit der Reichsgründung erfüllt hatte, nämlich einen homogenen Nationalstaat geschaffen zu haben, war für die nachfolgende Generation und unter ihnen Heinrich Claß somit bereits gegeben. Daher ging es für sie im Wesentlichen darum die Großmachtstellung des Deutschen Reiches in Europa und der Welt zu manifestieren. Die hier zugrunde liegende ethnisch homogenisierte Gemeinschaft des deutschen Volkes war dabei von zentraler Bedeutung.
Diese Ethnisierung des Volksbegriffes seit Gobineau, Lagarde und Chamberlain hatte zur Folge, dass nun die Abstammung in den Mittelpunkt rückte und es nicht mehr um Zugehörigkeit auf der Grundlage einer gemeinsamen Kultur, Sprache oder auch des gemeinsamen Schicksals ging. Claß bezeichnete in seinen eigenen Schriften und Reden die Fokussierung auf die "Volksgemeinschaft" insbesondere vor dem Hintergrund einer Abgrenzung von "Fremdvölkischen" (23) als Notwendigkeit. Innenpolitisch wurden neben den Juden jedoch auch Sozialdemokraten und Katholiken aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Die deutsche Nation nahm für Claß den Charakter des Sakrosankten auf der Basis eines übergeordneten Kollektivs an. Dieses erstreckte sich auch auf andere Völker, die gegenüber dem deutschen Volk als nachrangig zu bezeichnen seien. Dieses Bekenntnis basierte also wie Leicht herausstellt auf einer religiösen Deutung der nationalen Sendung des deutschen Volkes und nahm sich auch heraus, diese Ziele für das Volk selbst zu formulieren.
Im zweiten Hauptkapitel "Die homogene 'Volksgemeinschaft' als Ordnungsprinzip" (99-176) liegt der Schwerpunkt auf der zunehmenden Radikalisierung des 1891 gegründeten Alldeutschen Verbandes, seitdem Claß diesen ab 1908 als Verbandschef führte. Die in seinen Augen gescheiterte Kolonialpolitik des Deutschen Reiches unter Reichskanzler Bethmann Hollweg am Beispiel der Marokko-Krise 1911 förderte Claß' zunehmende Radikalisierung. Es zeigte sich hier jedoch auch, wie wenig Einfluss Claß tatsächlich ausüben konnte und wie er stattdessen sogar selbst durch die herrschenden Eliten manipuliert wurde.
Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges begrüßte auch Claß ausdrücklich. Vom Anbeginn des Krieges plädierte er für die territoriale Expansion des Deutschen Reiches auf Grundlage einer ethnischen Segregation als maßgeblichem Kriegsziel. Dass Claß hier insbesondere am Ende des Krieges in der Öffentlichkeit weitgehend, aber auch mit seinen radikalen Überlegungen im Alldeutschen Verband selbst häufig isoliert war, macht Leicht eindringlich deutlich. Dem Antisemitismus kam in seinem Weltbild ebenfalls eine starke Funktion zu, was sich auch dadurch zeigt, dass Claß im Falle einer deutschen Niederlage die Juden dafür verantwortlich machen wollte. (221-258) Während der Weimarer Republik änderte sich an der Außenseiterposition Claß' innerhalb der außerparlamentarischen Opposition nichts. (259-388) Leicht illustriert eindringlich, dass Claß' schon frühzeitig hoffte, die NSDAP für seine Ziele einspannen zu können, dies jedoch nicht erfolgte. Claß selbst empfand die NSDAP zu diesem Zeitpunkt als nicht völkisch-radikal und elitär genug. Aber auch die Nationalsozialisten waren schon vor der Machtergreifung nicht daran interessiert, mit Claß oder dem Alldeutschen Verband zusammen zu arbeiten.
Die Zeitgenossen, aber auch Vertreter in der Forschung hatten immer wieder angenommen, Claß habe über großen Einfluss auf die politischen Handlungsträger vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in das nationalsozialistische Deutschland verfügt. So nahm beispielsweise Werner Conze in seinem biographischen Überblick zu Claß in der Neuen Deutschen Biographie aus dem Jahre 1957 an, dieser habe an einflussreicher Stelle hinter den Kulissen die Fäden für den Kampf gegen die Weimarer Republik gezogen. [1] Dass insbesondere die NSDAP und Hitler Claß von Anbeginn zwar aus finanziellen Erwägungen benutzt hatten, aber diesen keineswegs in ihre Überlegungen mit einbezogen oder sich gar von ihm beeinflussen ließen, ist eine der gewichtigsten Erkenntnisse dieses Buches. (285-291, 367-374)
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde dem Alldeutschen Verband bereits Ende 1933 jede politische Tätigkeit untersagt. 1939 erfolgte die Auflösung des Verbandes. Die neuen Machthaber sahen hier wohl das Potential für eine mögliche konservative Opposition. Claß selbst zog sich aus der Politik zurück und vernichtete sein Privatarchiv wie auch das des Alldeutschen Verbandes aus Angst vor möglichen Repressalien in großen Teilen im Jahre 1942. Seine politischen Erinnerungen hinterlegte er bereits 1936 in einem Banksafe in der Schweiz.
So beleuchtet diese Biographie basierend auf einer breiten Quellengrundlage eindringlich die Rolle von Heinrich Claß vor dem Hintergrund der sich verändernden Parameter der politischen Kultur vom Kaiserreich bis in die ersten Jahre des Nationalsozialismus. Die klar gegliederte und anschaulich geschriebene Studie wartet mit neuen Erkenntnissen auf und schließt zudem eine bestehende Forschungslücke.
Anmerkung:
[1] Werner Conze: Claß, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III: Berlin 1957, 263.
Carsten Schapkow