Philipp Brunner / Jörg Schweinitz / Margrit Tröhler (Hg.): Filmische Atmosphären (= Zürcher Filmstudien), Marburg: Schüren-Verlag GmbH 2012, 301 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-3-89472-830-4, EUR 29,90
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Hans-Georg von Arburg / Philipp Brunner / Christa M. Haeseli u.a. (Hgg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Berlin: Diaphanes Verlag 2008
Jörg Schweinitz: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin: Akademie Verlag 2006
Die filmische Atmosphäre zu einem Untersuchungsgegenstand zu machen, heißt, mit der Paradoxie umzugehen, dass die "Unschärfe des Atmosphäre-Begriffs" dessen "konstituierende Eigenschaft" (126) darstellt. Dass die Zürcher Filmwissenschaft dieses ästhetische Merkmal dennoch zum Gegenstand einer Tagung machte und die Ergebnisse in einem sorgfältig edierten Band herausbringt, hat gute Gründe. Zum einen betonen zahlreiche kanonische Texte der Filmwissenschaft und Ästhetik das Phänomen des Atmosphärischen: Roland Barthes (punctum), Walter Benjamin (Aura), Hermann Schmitz (impressive Situationen, Atmosphären des Gefühls), Urban Gad (Stimmung der Bilder), Theodor Lipps (Substrat der Stimmung). Dazu ist es in Kritik und Analyse von Filmen wichtig, über deren "Atmosphäre" zu sprechen. Aber insbesondere Gernot Böhmes Essays Atmosphäre von 1995 und Architektur und Atmosphäre von 2006 haben diesen Aspekt wieder mehr Aufmerksamkeit verschafft. Böhmes Ausführungen bieten sich an, um eine Debatte aus der philosophischen Ästhetik in die Filmwissenschaft hineinzutragen, weil sich so verschiedene Aspekte des Filmischen in einem Zusammenhang diskutierten lassen. Was diesen schillernden Begriff so attraktiv macht, ist, dass "Atmosphäre" sowohl eine ästhetische Qualität ist wie auch ein narratives "Element". "Atmosphäre" ist in diesem Sinne nichts Gegenständliches, sondern - wie wir erfahren - eine Stimmung, in die der intradiegetische Raum eingefärbt ist und in der sich die Protagonisten bewegen - und die sich, das ist das Erstaunliche, sehr leicht auf den Zuschauer überträgt und dessen emotionale Verfasstheit, ja den "gesamten Raum der Erfahrung" (162) mit prägt. Wie Franziska Heller am Beispiel der Regendarstellung mit Rekursen auf David E. Wellbery zeigt, ist die Atmosphäre ein "besonderes Wechselspiel aus Erfassen (von Äußerem) und gleichzeitigem Erfasst-Werden" (162). Böhme zitierend, bestimmt sie Atmosphäre als räumliches Merkmal. Atmosphäre ist dasjenige, "was zwischen den objektiven Qualitäten einer Umgebung und unserem Befinden vermittelt: wie wir uns befinden, vermittelt uns ein Gefühl davon, in was für einem Raum wir uns befinden" (162), wie es bei Böhme heißt. [1] Wir haben es, wie Daniel Wiegand zeigt, mit einer "Veräußerlichung von Innenwelten mittels der sinnlich wahrnehmbaren Bildstimmung" (199) zu tun. Die Atmosphäre ist eine Art Hintergrund jeglicher filmischer Rezeption. Sie zu untersuchen, bedeutet zugleich, die gewohnte Sicht zu verlassen und auf die konstitutiven Bedingungen filmischer Narration zu achten. Und so geht es in dem Band um Konfigurationen, für die nicht nur der Filmkritik die Begrifflichkeit oft fehlt, sondern für die die Film- und Erzähltheorie und auch die Filmanalyse eine begrifflich-ästhetische Vorstrukturierung braucht, die der vorliegende Band bietet.
In 17 Beiträgen stellen Film- und Medienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowohl theoretische als auch analytische Modelle vor, den Begriff der Atmosphäre zu konturieren. Dass dies schon lange notwendig ist, zeigt Hans J. Wulff in seinem richtungsweisenden Aufsatz "Prolegomena zu einer Theorie des Atmosphärischen im Film": "Auch wenn 'Atmosphäre' in den Werkbeschreibungen vieler Kunstwissenschaften überaus oft verwendet wird, so ist doch meistens unklar, was seine Bestimmungselemente sind." (111) Wulff legt am Beispiel des Filmtons (atmosphärischer Ton, "sound image") überzeugend dar, dass atmosphärische Szenarien "ganzheitliche Objektkonfigurationen" (114) sind. Die Terminologie der Nachrichtenberichterstattung übernehmend, spricht er von einem "wallpapering" (116). Als "atmosphärischen Hof" beschreibt Wulff schließlich die Formen des unscharfen, synästhetischen, phantasmatischen Darstellens: "Das Atmosphärische ist in dieser Hinsicht eine Tiefenschicht der Inszenierung, exponiert die Figuren und das Environment gleichermaßen in einem zusammenhängenden atmosphärischen Hof." (121ff.) Am Schluss fragt der Autor nach den Konventionen des Atmosphärischen, die er als Register beschreibt und als deren erstes Merkmal er die Repetitivität betrachtet. Folgt man dem, würden die massenmedialen Atmosphären auf vorhandenen (emotionalen) Typisierungen beruhen, die der Film 'abruft'.
Andere Autoren zeigen, wie Atmosphäre als Materialeigenschaft gekennzeichnet werden kann, so etwa der viragierte Film oder das alternde Filmmaterial. Jörg Schweinitz untersucht in seinem Beitrag "Von Transparenz und Intransparenz. Über die Atmosphäre historischen Filmmaterials" Stummfilme aus den 1910er-Jahren: "Der Sepia-Ton verändert unsere Wahrnehmung nicht allein, weil er heute gleichsam zeichenhaft für mediale Historizität steht, sondern vor allem, weil die - hier sehr weiche, vielfältig nuancierte - Monochromie den Eindruck einer homogenen Materialität hervorruft. Sie scheint von luftiger, zarter Transparenz zu sein und zieht doch gleichzeitig als ein dem heutigen Auge fremdes, historisch fernes, in unserer Wahrnehmung nicht automatisiertes Moment den Blick aufs Material." (41) Barbara Flückiger zeigt, wie die Integration von Videomaterial der 'filmischen Oberfläche' eine Atmosphäre bzw. differierende Atmosphären verleiht. Das Zeilenraster der Videoästhetik wird zu einer Art Code, um das filmische Bild gegenüber der Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit aufzurauen. Ähnlich untersucht Tereza Smid die Funktion der filmischen Unschärfe, etwa am Beispiel von Lynne Ramsays Morvern Callar und Gus Van Sants Paranoid Park, "Schärfenverlagerungen bringen das dissoziierte Verhältnis ins Schwingen, so dass hierarchische Abstufungen verschwinden. Was hier entsteht, ist ein instabiler Stimmungsraum." (153) Andere Aufsätze widmen sich dem konkreten Raum des Kinos, Anne Paech etwa rekonstruiert ganz konkret das frühe Kinoerlebnis als olfaktorisches: "Wir haben unser olfaktorisches Kino im Kopf" (34). Margrit Tröhler fragt nach den filmischen Dispositiven und ihren Atmosphären und vergleicht mit dem Wohnzimmer, dem Museum und dem Kino verschiedene Orte der Rezeption miteinander. Andere Aufsätze analysieren Motive bzw. filmische Strategien, die Atmosphären evozieren, so die Texte von Alexandra Schneider ("Kann alles außer Popcorn, oder Wann und wo ist Kino?"), Veronika Rall ("Nostalgische Atmosphäre. Mnemotop, Archiv und Archäologie in Jean-Charles Tacchellas Travelling Avant"), Christine N. Brinckmann ("Warten im Café. Zeit und Atmosphäre in einem Fensterfilm von Kurt Kren"), Patrick Straumann ("Jean-Pierre Melvilles 'venezianische Nacht'"), Joachim Paech ("Der unterscheidende Moment"), und Volker Gerling ("Bewegte Bewegung - mit Daumenkinos auf Wanderschaft").
Der Band ordnet und erweitert eine für die Filmwissenschaft wichtige Debatte und bereichert sie durch zahlreiche, thematisch eng geführte Analysen. Die poetischen Momente - und die wirklichen Qualitäten von Filmen - liegen sicherlich ganz wesentlich in deren Atmosphäre begründet. Dass auf diesen Aspekt der "imaginäre[n] Stofflichkeit" (17) des Films geachtet und versucht wird, diesen "analytisch in Sprache zu fassen" (16), wie Margrit Tröhler im Vorwort schreibt, ist ein zentrales Anliegen des Bandes. Und es ist den Verfasserinnen und Verfassern auf sehr anschauliche und überzeugende Weise gelungen, zu zeigen, wie wenig es sich dabei um bloße Effekte handelt und wie viel durch Atmosphären selbst schon auf eine subtile, indirekte Weise "prä-narrativ" vermittelt wird.
Anmerkung:
[1] zit. nach Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, Paderborn 2006, 16.
Andreas Becker