Gertrud Koch / Martin Vöhler / Christiane Voss (Hgg.): Die Mimesis und ihre Künste, München: Wilhelm Fink 2010, 262 S., ISBN 978-3-7705-4822-4, EUR 34,90
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"Mimesis" gilt als ein wesentliches Bezugskonzept europäischer Ästhetik. So klar benennbar die erhaltenen Hauptquellen sind - eben jene berühmten Textstellen aus den ersten Kapiteln von Aristoteles' Poetik und dem dritten und zehnten Buch von Platons Politeia sowie dessen Sophistes, Kratylos -, so schillernd und vielfältig sind deren Interpretationen. "Das seit dem siebten Jahrhundert vereinzelt bezeugte Verb mimeísthai, von dem, wie es scheint, erst in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts das Substantiv mímêsis gebildet worden ist, deckt ein breites Spektrum von Tätigkeiten ab, das von nachahmen über darstellen bis zu ausdrücken reicht, und Aristoteles schöpft diese Bedeutungsbreite auch voll aus", schreibt Bernd Seidensticker in dem von Gertrud Koch, Martin Vöhler und Christiane Voss herausgegebenen Band Die Mimesis und ihre Künste (17). Auch die Kunst selbst verschrieb sich keineswegs nur der "Nachahmung", sondern setzte sich oft von diesem Konzept ab, wie etwa die Avantgarden der Moderne mit ihrem Anspruch, Neues zu erschaffen, anstatt Bekanntes zu wiederholen.
Der vorliegende Band verfolgt, man gestatte dem Rezensenten von der fünfgliedrigen Unterteilung der Herausgeber abzuweichen, inhaltlich vor allem zwei große Linien. Zum einen versammelt er Beiträge von anerkannten Experten der Mimesisforschung, die ihr Wissen darlegen und ihre Erkenntnisse mit einigen neuen Thesen und Ergebnissen anreichern. Dann finden sich Beiträge zur Frage, wie das Mimesiskonzept in der Moderne - sozusagen als Negativfolie - eine indirekte Bezugsgröße bleibt. Dabei folgen einige Texte ganz konkret in der Analyse der Frage der Nachahmung in der Kunst.
Was den ersten Bereich anbelangt, so fände man die hier dargelegten Thesen im Groben sicherlich auch anderswo entwickelt, aber in dieser Zusammenstellung und in dieser Konzentration ist das nur hier zu finden. Es ist ein wirklicher Gewinn, sich in einem Band auf eine so gründlich ausgearbeitete und fundierte Weise über die Debatte informieren zu können und eine Einführung in Fragestellungen zu bekommen, die keineswegs nur die Altertumswissenschaften, Philosophie und die Klassische Philologie interessieren. Dargestellt wird, wie Aristoteles' Konzept der Mimesis zu bestimmen sei (Bernd Seidensticker "Aristoteles und die griechische Tragödie"), wie die Antike sich selbst in der Bildhauerei und ihren Objekten reflektiere (Adrian Stähli "Mimesis als Aufführung und Darstellung") und wie der Begriff bei Platon zu verstehen sei (Arbogast Schmitt "Mimesis bei Platon"). Joachim Ringleben thematisiert in seinem Beitrag "Mimesis und Agape" die Transformation des Konzepts durch die Begriffsverschiebung hin zur "Imitatio Christi".
Angenehm ist dabei stets, dass jedem Autor Raum zur Verfügung steht, die Gedanken argumentativ zu entwickeln und die eigene Sicht detailliert darzulegen. Jeweils mit anderen Akzenten finden sich so verschiedene Interpretationen der genannten antiken Grundlagentexte. Es wird nicht versucht, Eindeutigkeit herzustellen, wo Fragen am Platze sind, sondern jeder Autor nuanciert (und favorisiert) eine mögliche Übersetzung von mimesis.
Dargelegt und plastisch gemacht wird etwa ein Wissen von der Auslegung Aristoteles' über die Masken im griechischen Theater und der Architektur der Dionysostheater. Joachim Ringleben fragt am Beispiel der christlichen Agape, wie die Imitatio Christi das Konzept der Mimesis durchdringt: "Die imitatio Christi (oder: Gottes) [...] gründet also ihrer Möglichkeit nach in Gottes (oder Christi) imitatio des Menschen. Das hat Johann Georg Hamann unübertrefflich formuliert: Er 'ahmte uns nach, um uns zu seiner Nachahmung aufzumuntern'. Imitatio Christi ist derart nichts anderes als eine imitatio, das heißt menschliche Wiederholung der sich zu uns herablassenden göttlichen Liebe." (82)
In einem anderen thematischen Akzent beschäftigen sich die Autoren des Bandes mit der modernen Kritik der Mimesis, so Hans-Thies Lehmanns "Notiz über Mimesis": "Etwas als Handlung begreifen, bedeutet stets schon eine Interpretation des Geschehens und ist insofern stets auch Invention. Die Suggestivkraft der Formel bestand aber darin, die Kunst scheinbar an eine vorgängige Wirklichkeit rückzubinden, die ihrerseits wesentlich als Handeln definiert ist." (70) Lehmann pointiert die Umkehrung, dass nämlich "das Leben die Kunst nachahmt und nicht etwa die Kunst das Leben" (70). Íngrid Vendrell Ferran beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, wie es möglich sei, "dass wir emotional auf Fiktionen reagieren" (91) und bezeichnet diese von Texten introduzierten Momente als "fiktionale Emotionen". Friedrich Balke und Georg Witte folgen der künstlerischen und ästhetischen Anverwandlung. Witte macht am Beispiel der russischen Avantgarde und des Formalismus deutlich, "wie sich der Avantgardediskurs sowohl in der Unterscheidung als auch in der Überlagerung dieser [...] Aspekte der Mimesiskritik entfaltet" (134). Eine ähnliche Fragestellung nimmt auch Andreas Kablitz in den Blick, wenn er von einer "semiotischen Umdeutung der aristotelischen Mimesislehre" spricht (207) und insbesondere Konzepte der Repräsentation einbezieht, um diese Akzentverlagerung zu beschreiben. Gunter Gebauer folgt der Frage der "Mimesis und Gewalt bei Nietzsche". Mimesis "erzeugt eine Welt, aber ihr Prinzip ist nicht eine Neuschöpfung einer gegebenen Welt in einem anderen Medium, sondern Nachahmung einer ausgeübten Gewalt auf einer höheren Gewaltstufe" (222). Cornelia Müller stellt die gestische Mimesis in den Vordergrund ihrer Ausführungen und beschreibt ganz konkret Körpergesten: "kommunikative Handbewegungen" als Formen alltäglich praktizierter Mimesis (150).
Der Band zeigt, wie das Konzept der Mimesis in der Moderne eine Bezugsfolie bleibt und eröffnet gerade in der Relektüre bekannt geglaubter Texte neue Positionen.
Andreas Becker