Ulrike Wörner: Die Dame im Spiel. Spielkarten als Indikatoren des Wandels von Geschlechterbildern und Geschlechterverhältnissen an der Schwelle zur Frühen Neuzeit (= Regensburger Schriften zur Volkskunde/Vergleichenden Kulturwissenschaft; Bd. 21), Münster: Waxmann 2010, 457 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-8309-2332-9, EUR 39,90
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König, Dame, Bube: Motive auf Spielkarten, die im 21. Jahrhundert zum kollektiven Gedächtnis gehören. Ob Rommé, Skat oder Poker, in den Spielen geht es um Gewinnen oder Verlieren, also auch um die Erlangung und den Verlust von Macht. Dabei spiegeln die Spielkartenbilder, die auf ein mittelalterliches Hierarchiesystem rekurrieren, die Machtverhältnisse ihrer Entstehungszeit wider. Schlägt der König die Dame, die Dame den Buben oder umgekehrt? - In den Spielen werden den Karten Eigenschaften zugeschrieben, können etablierte Machtsysteme bestätigt oder auf den Kopf gestellt werden. Die Karte wird zum Körper, dem im Kollektiv der Spielkarten eine bestimmte soziale Stellung zukommt, der eine (Geschlechter-)Rolle performt. Wie Judith Butler konstatiert, ist "die Geschlechtszugehörigkeit keineswegs die stabile Identität eines Handlungsortes, von dem dann verschiedene Akte ausgehen; vielmehr ist sie eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist - eine Identität, die durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande kommt." [1] Folglich ist auch ein Kartenspiel mit Bube, Dame und König unter anderem ein Spiel mit Geschlechterstereotypen und -verhältnissen.
Der Frage, auf welche Weise Kartenmotive auf historische Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen sowie auf den Wandel von Rollenbildern verweisen, geht Ulrike Wörner in ihrer an der Universität Regensburg vorgelegten und nun als Buch erschienenen Dissertation nach. "Gefragt wird, wie sich die permanente Praxis von Zuschreibungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsroutinen im Sinne eines 'doing gender' über die Spielkarte erschließt." (13) Zeitlich und geografisch fokussiert die Untersuchung die ältesten erhaltenen Spielkarten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts aus Oberitalien, Frankreich und dem süddeutschen Raum - Regionen, in denen das Kartenspiel eine frühe Popularisierung erfuhr. Ihren Quellenkorpus der Spielkartenbilder bezeichnet Ulrike Wörner als "Erinnerungsfundus" (15), der Aussagen über historische Mentalitäten und Diskurse beinhaltet und insofern auch über geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Wertungen informiert.
Ihre Analyse der Kartenspiele und Spielkarten orientiert sich an der kunstwissenschaftlichen Methode der Ikonografie und Ikonologie, beziehungsweise an der von Rolf Wilhelm Brednich daraus entwickelten volkskundlich-ethnologischen Bildforschung, welche den Aufbau der Arbeit bestimmt. [2]
Die Publikation gliedert sich in drei Hauptkapitel: Einer geschichtlichen Einführung in das Thema folgen die Analysen des Quellenmaterials sowie ein "Ergebnisse/Ausblick" benanntes Schlusskapitel.
Ausgangspunkt der Betrachtung bildet eine ausführliche Darstellung des historischen Kontexts, der sich zum einen mit der Geschlechtergeschichte des 14. bis 16. Jahrhunderts, im Besonderen mit der "Querelle des Femmes" sowie der Frauenbildung auseinandersetzt und zum anderen die Geschichte der Spielkarte erörtert. Daran schließt sich das umfangreichste Kapitel, das sich mit der Analyse der Quellen beschäftigt. Wörner diskutiert hier drei Fallbeispiele: Eröffnet wird die Untersuchung mit dem im Auftrag der italienischen Herzogsfamilie Visconti-Sforza um 1450 entstandenen Tarock, das zu den ältesten und nahezu vollständig erhaltenen Kartenspielen zählt. Die um 1500 gefertigten französischen Spielkarten aus Lyon und Rouen, die den Topos der 'Neun guten Helden' beziehungsweise der 'Neun guten Heldinnen' aufgreifen, bilden den Gegenstand der weiteren Analyse. Das letzte Fallbeispiel setzt sich aus gleich mehreren Quellen aus Süddeutschland zusammen: dem Stuttgarter Spiel, dem Ambraser Hofämterspiel sowie einer Reihe Spielkarten aus den Jahren 1440 bis 1550, deren verbindendes Element die Visualisierung von Nacktheit ist. Ein Ausblick auf die Entwicklung des Vierfarben- und des Tarockspiels in den folgenden Jahrhunderten schließt die Untersuchung ab.
Die Spielkarten sind Spiegel historischer höfischer Kultur, familiärer und ehelicher Verhältnisse sowie politischer Interessen und Botschaften. Durch die Analyse von Paarbildungen bei den Kartenbildern und den Vergleich der Spiele gewinnt Ulrike Wörner Erkenntnisse über Geschlechterbeziehungen, Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen und in diesen Bereichen greifbare gesellschaftliche Entwicklungen. So manifestiert sich etwa in den frühneuzeitlichen Kartenbildern eine Verknüpfung mit dem Sujet der Minne (417). Die Rolle der Frau in den Kartenmotiven ist ambivalent, oszilliert zwischen Ehefrau, Jungfrau und Prostituierte, zwischen Unterdrückung und Emanzipation. Durch die Einbeziehung der Spielpraxis und die Betrachtung von Darstellungen spielender Frauen und Männer ergeben sich weitere Konnotationen. "Der wie immer geartete 'Sieg' der Frauen im 'Spiel' ändert [jedoch] nichts an ihrer nachrangigen Platzierung in der Geschlechterhierarchie und entspricht nicht ihrer realen Stellung im spätmittelalterlichen Gesellschaftssystem." (419)
Ulrike Wörners Arbeit vermittelt auf der Basis fundierter und ausführlicher Quellenanalysen einen anschaulichen Einblick in die gendergeschichtliche Dimension der Spielkarten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Aufgrund der inhaltlichen Dichte der Untersuchung wäre jedoch eine prägnante Zusammenfassung der Erkenntnisse am Ende jeder Quellenanalyse förderlich für ein besseres Verständnis des gesamten Textes gewesen. Auch das abschließende Fazit fällt recht kurz aus und eröffnet eher weitere Perspektiven, als dass es sich auf die Ergebnisse der Arbeit konzentriert.
Daran wiederum ist die Begeisterung der Autorin für dieses Thema abzulesen, die sich einem Gegenstand der Alltagskultur zugewandt hat, der von der Genderforschung bisher kaum Beachtung fand: Eine Untersuchung, die weitere Zugangswege aufzeigt und interdisziplinär anschlussfähig ist.
Anmerkungen:
[1] Judith Butler: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002, 301-320.
[2] Rolf Wilhelm Brednich: Bildforschung, in: Ders.: Grundriß der Volkskunde, Berlin 2001, 201-220.
Britta Tewordt