Christa-Irene Nees: Vom Katheder in die große Welt. Zum Selbstverständnis August Friedrich Wilhelm Cromes (1753-1833). Eine kritische Biographie (= Studia Giessensia. Neue Folge; Bd. 1), Hildesheim: Georg Olms Verlag 2012, 473 S., ISBN 978-3-487-14760-4, EUR 49,80
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Die "Geschichte eines Scheiterns" (438) erzählt die hier anzuzeigende Studie. Sie kündet zunächst vom Scheitern eines Verlages in der Gegenwart. Auf Register, auf eine saubere Trennung von Quellen- und Literaturverzeichnis, auf ein Lektorat überhaupt zu verzichten, ist kein guter Auftakt für die Neue Folge der Studia Giessensia. Sie wird dem Ruhme der Ludoviciana bestenfalls dienen können, wenn der Verlag künftig zumindest die Silbentrennung und andere Standards einübt. Das Druckbild prüft die Nerven noch des gutmütigsten Lesers, der sich für die Geschichte eines gelehrten Scheiterns in der Sattelzeit interessiert.
Der Protagonist der Studie ist der Kameralist und Statistiker August Friedrich Wilhelm Crome (1753-1833), den seine Publikationen zwar immerhin bis zum Gießener Katheder, aber trotz steter Bemühungen eben just nicht in die große Welt trugen. Wesentlich aus Cromes Schriften und Archivalien aus Gießen sowie Darmstadt gespeist, verfolgt die Dissertation die Lebensgeschichte eines begabten Kopfes penibel nach, dessen intellektuelle, politische und soziale Ambitionen mit schöner Regelmäßigkeit frustriert wurden - zumal nach der Publikation der profranzösischen Schrift: "Deutschlands Crise und Rettung im April und May 1813". Sie brachte Crome Isolation im Kollegenkreis, offene studentische Feindseligkeiten und ein Verdikt als blanker Opportunist in der (kleindeutschen) Nachwelt ein. "Mag C. auch kein weitsehender Politiker gewesen sein, ein guter Statistiker und Cameralist war er doch", konstatierte die Allgemeine Deutsche Biographie einst noch recht konziliant. [1]
An diesem knappen Urteil etwas zu ändern, gibt die detailreiche Biographie kaum Anlass. Sie folgt in elf Kapiteln chronologiegetreu der Vita des oldenburgischen Pfarrersohnes, der ein bewährtes Familienmuster nachahmte. Crome studierte Theologie in Halle - gleich seinem Onkel: Dem Polyhistor Anton Friedrich Büsching verdankte er seine gelehrten Interessen und Hofmeisterpositionen bei Berliner Adeligen. Zwar hielt sich Crome das Pfarramt offen, gelangte aber bald an eine Anstellung als Lehrer für Geographie und Geschichte am Dessauer Philanthropin. Als er seine Verdienste nicht hinreichend gewürdigt sah, begann er als Hebel zum Erwerb höherer Ämter sein öffentliches Prestige einzusetzen. Letzteres erwuchs aus einer vielfach aufgelegten "Productenkarte", die Landes- als Wirtschaftskunde betrieb: Sie ordnete Ländern die jeweiligen Erzeugnisse zu, wandte sich an Kauf- wie Staatsmänner gleichermaßen. Crome rückte prompt zum Dessauer Fürstenerzieher auf - als zeitweilig vielrezipierter Popularisator der Statistik im Gefolge Achenwalls und anderer, weder als ihr Pionier noch als ihr Epigone. In den 1780er Jahren reüssierte er mit Landesbeschreibungen der USA, Russlands und der Österreichischen Niederlande, schließlich ganz Europas, und pflegte dieses Format lebenslang.
Wirklich klar wird sein Selbstverständnis freilich nicht. Einen aufwendigen Lebensstil, der seine Mittel bei weitem überstieg, pflegte Crome schon vor seiner Berufung nach Gießen - als Schöngeist, bei dem schöner Stil "stets oberste Priorität" (305) genoss. Typisch scheint er in seinem allzu ehrgeizigen (441) Habitus weniger für die zeitgenössische Hochschullehrerschaft als für eine nicht mehr ständische, aber auch noch nicht bürgerliche Welt gewesen zu sein: Kein Forscher neuer Art war er, aber ebensowenig klassischer Gelehrter einer kleinen Landesuniversität, kein Wissenschaftler, der sich dem aufkommenden Systemdenken verpflichtet gefühlt hätte, sondern aufgeklärter Praktiker. Aus allgemein verfügbaren Publikationen trug er in bester kameralistischer Manier Daten zusammen, um die Landesökonomie zu verbessern. Welchen Ideen er dabei folgte und welches geistige Profil er ausbildete, untersucht die vorliegende Studie kaum - auf eine intensive Montesquieu-Lektüre lassen aber etwa Cromes Sinnen über den Volksgeist (35) sowie seine Betrachtungen über Kultur und Klima (104) schließen. Wie er sich zur reichhaltigen ökonomischen Literatur des späten 18. Jahrhunderts verhielt, bleibt unklar: Gleichzeitig "physiokratischen und merkantilistischen Positionen" (315) kann sein Werk allenfalls in je unterschiedlichen Hinsichten nahegestanden haben.
Keine spezifische Theorie hat Crome ausgebildet, keine Schule begründet. Aus der Zusammenarbeit mit Christian Joseph Jagemann aus Weimar gleich eine Tätigkeit als "Wissenschaftsorganisator" (302) abzuleiten, scheint jedenfalls der Ehre etwas zu viel. Für sein "Journal für Staatskunde und Politik" (1792-1796) mag Crome "fachlich kompetente Mitarbeiter zu aktivieren" vermocht haben (322), jedoch eben nicht hinreichend viele (323). Sein Netzwerk war offenkundig klein: Trotz intensiven Strebens erhielt er keinen Ruf an eine renommierte Universität, Kontakte zu berühmten Kollegen werden an keiner Stelle angedeutet, bedeutende Publikationserfolge jenseits der Produktenkarten ebensowenig verzeichnet, auch die späte Heirat passt ins Bild. Mehr als der inhaltlich eher konventionelle Wissenschaftler trat hier der aufstrebende Bürger der Spätaufklärung mit einem kostspieligen Repräsentationsideal auf. Unablässig bemühte sich Crome um Avancement, forderte höhere Besoldung, diente sich Herrschern an - etwa den römisch-deutschen Kaisern, deren Wahlkapitulationen er edierte, und Carl Theodor von Dalberg, dem er just diese Edition widmete. Das habsburgische Prestige wie sein eigenes Prestige bei den Habsburgern suchte er schließlich durch eine mehrbändige Publikation zur Staatsverwaltung der Toskana zu befördern, die unter Leopold II. zum aufklärerischen Musterterritorium und Experimentierfeld geworden war. Rasch wusste sich Crome indes anderen potentiellen Förderern zuzuwenden, als Hessen-Darmstadt französisches Aufmarschgebiet wurde; Geltung suchte er nun bei Bernadotte zu erlangen. Seine Behauptung, die Neutralität Hessen-Darmstadts 1798 selbst ausgehandelt zu haben, vermag die Autorin ebenso zu widerlegen wie diverse andere Prätentionen, durch die sich Crome für diplomatische Aufgaben zu empfehlen suchte.
Den Anschluss an die disziplinäre Entwicklung der Statistik verlor er rasch. An die Popularität aus den 1780er Jahren vermochte Crome nicht anzuknüpfen. Stattdessen betrieb er jene publizistische Karriere als Anhänger des Rheinbundes und Napoleons, mit den eingangs geschilderten Folgen: Gänzlich isoliert, stellte er 1815 gar einen Antrag auf Versetzung in politische Dienste, die er zeitlebens angestrebt hatte. Nicht einmal in ein statistisches Büro aber wollte der Landgraf ihn rufen, sein Renommee reichte just nicht "bis ins Alter", wie die Autorin im Fazit behauptet (436). In Gelehrsamkeit und die erfolgreiche Pflege der eigenen Memoria flüchtete er sich in den letzten Jahren seines Lebens, das die Geschichte eines respektablen Professors und doch eines Gescheiterten erzählt.
Wofür sie nun eine "Fallstudie" bilden soll (3), bleibt indes rätselhaft: Was mag es bedeuten, dass die "Lebensparadigmen" Cromes "sich oszillierend zwischen den Fixpunkten der von bürgerlichen Werten bestimmten Öffentlichkeit und einem sie vernachlässigenden vornehmlich durch Eigeninteresse bedingten alltäglichen Agieren" (8) bewegt haben? Die Studie kann zur Lebensgeschichte Cromes viel Erhellendes sowie Entlarvendes beitragen und vermittelt ein eindringliches Lebensbild eines problematischen Charakters, ohne dessen Kontexte und mithin dessen immer wieder postulierte Repräsentativität eingehend zu analysieren. Einem breiten Leserkreis drängt sich diese detailreiche Biographie daher nicht auf.
Anmerkung:
[1] Rivier: Crome, August Friedrich Wilhelm, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), 606-607, Onlinefassung: http://www.deutsche-biographie.de/sfz8984.html [Stand: 18. Dezember 2012].
Georg Eckert