Thomas E. Kaiser / Dale K. Van Kley (eds.): From Deficit to Deluge. The Origins of the French Revolution, Stanford, CA: Stanford University Press 2011, XII + 345 S., ISBN 978-0-8047-7281-5, USD 25,95
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Am Anfang stand das (Staats-)Defizit - diese Erkenntnis, die Ursachen der Französischen Revolution betreffend, ist nicht neu. Ebenso wenig, dass es ein ganzes Ursachenbündel war, das den gewaltsamen Aus- und Aufbruch provozierte. "From deficit to deluge", der Titel des vorzustellenden Aufsatzbandes, ist insofern also programmatisch, als damit gerade diesem immanenten Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem und politisch-sozial-kulturellem Zusammenbruch des französischen Staates zentrale Bedeutung zugemessen wird.
Herausgegeben ist der Band von Dale Van Kley, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ohio State University, und Thomas E. Kaiser, der an der University of Arkansas at Little Rock Geschichte lehrt. Diese beiden und die weiteren Autoren des Buches sind ausgewiesene Experten für die Geschichte der Französischen Revolution - die meisten der Beteiligten waren schon 1987 bei der bilateralen, anlässlich des Bicentenaires der Französischen Revolution von Keith Michael Baker, Colin Lucas, François Furet und Mona Ozouf organisierten Konferenz "The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture" [1] an der University of Chicago dabei - und erwartungsgemäß hoch ist der Output des gemeinsamen Werks: Hier schöpfen Fachleute aus dem Vollen, breiten (einmal mehr) ihr Fachwissen, vor allem ihre profunde Detailkenntnis aus.
"In contrast to the elegance of some unified field theory, this book's central argument - that the French Revolution is best conceived of as a political event with diverse and other than purely political origins - may seem at once banal and untidy. But it does allow for a compromise between those origins of the Revolution that seem most structural and least negotiable - the economic and social, for example - and those that seem most epiphenomenal and least predeterminated - namely the political" (36), so fassen die Herausgeber ihren Ansatz und Anspruch im ausführlichen Vorwort zusammen. Sie stellen sich damit zum einen durchaus in den Forschungskontext der letzten knapp dreißig Jahre, der das 'Politische' als den Dreh- und Angelpunkt der Ursachenanalyse der Französischen Revolution betont. Zugleich wird allerdings auch klar, dass auf analytische Einsträngigkeit, wie sie die ebenfalls im Vorwort skizzierten wissenschaftlichen - zugleich ideologisch orientierten - marxistischen und revisionistischen Zugänge zum Forschungsthema vollzogen, bewusst verzichtet wird. Und implizit wird hier auch schon deutlich, dass Herausgeber und Autoren nicht notwendigerweise beanspruchen, nach wie vor umstrittene komplexe und eher teleologisch orientierte Fragen aufzugreifen wie zum Beispiel die, wie die verschiedenen Ursachen der Revolution deren Verlauf bestimmten, ob also schon zu Beginn erkennbar war, welche Richtung die Revolution einschlagen würde. Vielmehr wollen die Autoren explizit eher bodenständige Fragen klären, wie etwa die, wie die französische Monarchie die Handlungsoptionen, die sich ihr in der Krise 1787 bis 1789 boten, wahrnahm und wie sie mit ihnen umging, warum sie und ihre Gegner so handelten, wie sie es taten und schließlich wie diese Entscheidungen eine Revolution verursachten. Vor diesem Hintergrund ist sehr nachvollziehbar, dass das Verfahren des Buches die "blow-by-blow narrative of this crisis" (256) ist, also die ausführliche Erzählung der Ereignisse, aus der die Ursachenbündel minutiös entwickelt und - vor allem im Schlusswort der Herausgeber - zu einem Gesamttableau zusammengefügt werden.
Dass die Politisierung der gesamten Nation nie zuvor so groß war wie 1789, konstatieren Van Kley und Kaiser gleich zu Beginn. Die grundlegende These des Buches lautet denn auch, dass die Revolution entstanden ist aus der außergewöhnlichen Politisierung der vielen verschiedenen Probleme des Ancien Régimes, die zum einen in einem länger sich abzeichnenden und anhaltenden Prozess von statten ging, einen entscheidenden, wohl gar den entscheidenden Anstoß aber in einem konkreten Ereignis, nämlich der Einberufung der Generalstände durch den König, erlebte. Die daraus abgeleitete Sekundärthese des Buches heißt, die strukturellen Probleme und Gegensätzlichkeiten des Systems wurden erst in dem Moment zu Ursachen der Revolution, als sie Gegenstände des politischen Konflikts geworden waren. Die Herausgeber bekräftigen also, was mittlerweile communis opinio ist: Die Reformunwilligkeit und -unfähigkeit der französischen Monarchie, ihre Ungeschicklichkeit bei der Einbeziehung anderer politischer Kräfte in Entscheidungssituationen und die strukturbedingte Paradoxie ihres Anspruchs, absolutistisch zu agieren bei gleichzeitiger Abhängigkeit von Parlamenten, dem Klerus und der Aristokratie waren die wesentliche Ursache dafür, dass aus einer Finanzkrise ein Totalzusammenbruch des Systems erwuchs.
Die sieben Einzelaufsätze des Buches widmen sich den finanzpolitischen Ursachen (Gail Bossenga), den sozialen (Jack A. Goldstone), den religiösen (Dale K. Van Kley), den außenpolitischen Konstellationen bei Ausbruch der Revolution (Thomas E. Kaiser), den kulturellen Ursprüngen (Keith Michael Baker), der politischen Situation in den französischen Kolonien (Jeremy D. Popkin) und den "Gender"-Fragen in der politischen Kultur der vorrevolutionären Zeit (Jeffrey Merrick). Deutlich wird in der Gesamtschau, dass die Vielfalt der institutionell bedingten Blockaden das absolutistische Frankreich trotz seiner imposanten Fassade fragil machte und anfällig für den Kollaps, und zwar in weitaus höherem Maße als die meisten anderen europäischen Staaten in jener historischen Situation.
Es gehört zu den großen Stärken des Buches, dass es die historischen Bedingungen und die gegenseitigen Bedingtheiten der verschiedenen Revolutionsursachen genau und detailreich rekonstruiert, Widersprüche und Paradoxien im politischen System aufdeckt und - mehr noch - aus der In-Relation-Setzung der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen eigene Gewichtungen erarbeitet. Der vorliegende Band stellt sicher keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse vor, aber das ist auch nicht seine Intention. "Rethinking Political Culture and the Origins of the French Revolution" lautet ein Zwischentitel der Einleitung (26), und das ist es wohl auch, worum es hier geht: Das Vorhandene, Erforschte wird noch einmal genau angeschaut und kritisch gewendet. Der Band kann also gelesen werden als eine kluge Bestandsaufnahme der bisher erzielten Ergebnisse zur Frage der Ursachenbündel der Französischen Revolution. Das Buch überzeugt durch profunde Einzelanalysen, aber eben vor allem auch durch die Fachkompetenz zweier Herausgeber, die es verstehen, diesen Einzelanalysen eine übergeordnete These als Bindeglied zugrundezulegen. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich dieser vornehmlichen Aufgabe von Herausgebern stellen, nämlich einen Sammelband konzeptionell zusammenhängend zu entwickeln und in Einleitung und Schluss diese Zusammenhänge analytisch zu erläutern, beeindruckt.
Anmerkung:
[1] Keith Baker / Colin Lucas / François Furet / Mona Ozouf (eds.): The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture. 4 Bde., Oxford 1987-1994.
Heike Wüller