Klaus Bachmann: Vergeltung, Strafe, Amnestie. Eine vergleichende Studie zur Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden (= Studies in Political Transition; Vol. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, 372 S., ISBN 978-3-631-61512-6, EUR 59,80
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In allen vom Deutschen Reich im Zweiten Weltkrieg besetzten Staaten Europas stellte sich nach Kriegsende die Frage nach dem Umgang mit der Zeit der Okkupation und dem Phänomen der Kollaboration. Der Politikwissenschaftler und Journalist Klaus Bachmann wendet sich diesem Thema in seinem Buch in vergleichender Perspektive zu und nimmt mit Belgien und den Niederlanden auf der einen, Polen auf der anderen Seite drei Länder in den Untersuchungsrahmen auf, die auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten und viele Unterschiede aufweisen. Gemeinsam war ihnen allerdings, dass nach Kriegsende 1945 mehr oder weniger weitreichende Säuberungsmaßnahmen gegen tatsächliche oder vermeintliche Kollaborateure stattfanden, deren Ablauf und längerfristige Folgen zu erklären das Hauptanliegen des Buches darstellt.
Die Abrechnung mit Repräsentanten der Kollaboration deutet der Autor einleitend mit Arnold van Gennep als Form eines gesellschaftlichen Säuberungsrituals, mittels dessen eine Gemeinschaft danach strebe, nach Verletzung ihrer Normen und Werte ihre moralische Integrität wiederherzustellen. Mit einem solchen anthropologischen Ansatz setzt sich die Untersuchung insbesondere von den häufig stark normativen Betrachtungsweisen der Transitional Justice-Forschung ab, indem sie Kollaboration als eine soziale Konstruktion und Zuschreibung begreift und nach den spezifischen Kontexten ihrer Hervorbringung, ihren Wandlungen, ihrer Bedeutung für die Zeitgenossen sowie ihrer Funktion für die jeweilige Gesellschaft im Umbruchprozess fragt. Als zweite Leitperspektive wird eine eher politikwissenschaftliche Betrachtungsweise eingeführt, bei der es vor allem darum geht, die in der Forschungsliteratur kursierende Hypothese eines starken Zusammenhangs zwischen der Natur eines Unrechtsregimes und der Art und Weise seiner Aufarbeitung empirisch zu überprüfen. Daher muss die Untersuchung auch die Vorgeschichte und die Zeit der Besatzung selbst in den Blick nehmen. Um hierbei Anhaltspunkte für eine vergleichende Betrachtung der drei Untersuchungsländer zu gewinnen, entwickelt der Autor die methodische Strategie, die Zahl der von Säuberung und Abrechnung betroffenen Personen sowohl zu der Zahl der "objektiven" Kollaborateure als auch zur Gesamteinwohnerzahl des jeweiligen Landes in Beziehung zu setzen.
Die empirische Darstellung der drei Fallbeispiele verteilt die Gewichte sehr unterschiedlich, was unter anderem damit zusammenhängt, dass es im polnischen Fall, für den der Autor fachlich besonders ausgewiesen ist, im Vergleich zu den beiden westeuropäischen Ländern einige Besonderheiten zu schildern und zu klären gibt. Polen spielte im Gegensatz zu Belgien und den Niederlanden im ideologischen Programm des Nationalsozialismus eine sehr konkrete und herausgehobene Rolle. Des Weiteren wurde das Land 1939 nicht allein von Deutschland, sondern von Osten her auch von der Sowjetunion besetzt, und diese blieb auch nach 1945 die bestimmende Macht, so dass sich die Aufarbeitung der deutschen Besatzung unter ganz anderen Vorzeichen abspielte als im Westen. Auf das Polen-Kapitel entfallen so mehr Seiten als auf die beiden anderen Länder zusammen, wobei die Niederlande besonders knapp abgehandelt werden.
Überraschender an den gewählten Proportionen ist jedoch etwas anderes: während die jeweiligen nationalen Vorgeschichten zum Teil weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen, die Zeit der Kollaboration recht ausführlich geschildert und die Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart weiterverfolgt wird, entfallen auf den eigentlichen Gegenstand des Buches, nämlich die Säuberungs- und Aufarbeitungsprozesse der unmittelbaren Nachkriegszeit, erstaunlich wenige Seiten, insgesamt gerade einmal zehn Prozent des Gesamttextes. Die Darstellung bleibt hier ganz auf der gesamtnationalen Makroebene stehen, so dass der eingangs proklamierte Anspruch, die Säuberungs- und Strafmaßnahmen als Rituale historisch-anthropologisch zu analysieren von vornherein gar nicht eingelöst werden kann.
Die soliden, indes weitgehend aus der Standardliteratur gearbeiteten Falldarstellungen bieten an sich wenig Aufregendes und zerlaufen streckenweise in einer etwas kleinteiligen politischen Ereignis- und Parteiengeschichte. Der Autor verfolgt in allen drei Ländern vermeintlich totalitäre politische Strömungen und Bewegungen, welche sich den nationalsozialistischen Besatzern potentiell als Kollaborationspartner angeboten hätten. Diese nahmen Kooperationsangebote jedoch nur dann an, wenn es ihren Besatzungszielen dienlich schien. Interessant wird es, wenn der Autor in diesem Zusammenhang den polnischen Nationalmythos eines Volkes im Widerstand hinterfragt und auf die militärische Kollaboration der ukrainischen Minderheit im Land, auf die Einbürgerungspolitik durch das Reich mittels der deutschen Volksliste sowie auf die tiefgreifende ökonomische Kollaboration verweist. Hiermit wird die in der polnischen Historiographie und Erinnerung vorherrschende ethno-nationale Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg in anregender Weise aufgebrochen.
Als Ergebnis seines Vergleichs kommt der Autor am Ende zu dem Schluss, dass der Charakter eines Unrechts- und Besatzungsregimes die Art und Weise seiner Aufarbeitung nicht unmittelbar determiniert. Gemessen an einer "objektiven" Kollaborationsdefinition hätten eigentlich in Polen die meisten Menschen belangt werden müssen, gefolgt von den Niederlanden und Belgien. Die tatsächlichen quantitativen Relationen waren allerdings genau umgekehrt und erscheinen daher erklärungsbedürftig. Die zeitgenössischen Sichtweisen auf die Kollaboration hingen zum einen mit dem Kurs der deutschen Besatzungsmacht zusammen, dem Grad, in dem diese sich gegenüber Kooperationsangeboten überhaupt aufgeschlossen zeigte oder diese selbst nachfragte und anregte. Zum anderen und vor allem arbeitet die Studie jedoch die machtpolitischen Verhältnisse und Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit als entscheidend heraus. Während in den Niederlanden gegenüber Kollaborateuren eine eher inklusive Politik vorherrschte, schrieb sich in Belgien das Thema der Kollaboration tief in die Konflikte zwischen flämischer und wallonischer Bevölkerung ein und blieb daher noch jahrzehntelang virulent. Auch in Polen wurde die Kollaboration von der prosowjetischen Regierung politisch instrumentalisiert und geriet auf diese Weise zum Gegenstand machtpolitischer Auseinandersetzung. Diese Befunde stellen die gängige Auffassung in Frage, dass nur eine energische und konsequente Aufarbeitung von Systemunrecht eine Gesellschaft dauerhaft befrieden könne.
Insgesamt enthält das Buch viel Interessantes, vieles passt aber auch nicht recht zusammen. Der Anspruch einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf den Gegenstand der Kollaboration auf der einen und die Konstruktion "objektiver" Kategorien auf der anderen Seite widersprechen sich mitunter. Die empirische Ausarbeitung der Fallbeispiele und die typologisch-vergleichende Analyse drohen immer wieder auseinanderzulaufen, denn die Darstellung wird ausgerechnet dann besonders dünn, wenn es eigentlich um den Kern der Sache geht. Dass die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit für die Aufarbeitung der Besatzungszeit entscheidend waren, wird überzeugend gezeigt, es stellt sich dem Leser allerdings die Frage, warum diese dann nicht in den Mittelpunkt der Studie gestellt wurden. Die vielen Ideen und Ansätze fügen sich letztlich nicht recht zu einem kohärenten Ganzen zusammen. Nichtsdestoweniger lässt sich die Arbeit als Beitrag zu einem offenen Diskussionsfeld lesen, und viele der Beobachtungen, Anregungen und Anstöße lassen sich produktiv weiterdenken.
Benno Nietzel