Christian Götter: Die Macht der Wirkungsannahmen. Medienarbeit des britischen und deutschen Militärs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 77), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, VII + 365 S., ISBN 978-3-11-044824-5, EUR 64,95
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In seiner an der TU Braunschweig entstandenen Dissertation untersucht Christian Götter die Medienbeziehungen des deutschen und des britischen Militärs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit gemeint sind die Interaktionen militärischer Stellen mit den Massenmedien, insbesondere der Presse, die sich wiederum auf spezifische Medienstrategien und Medienbilder zurückführen lassen. Der Fokus liegt dabei auf der Wahrnehmung der Massenmedien innerhalb der militärischen Führungsspitzen sowie auf der Tätigkeit von Medienspezialisten im Bereich des Militärs. Besonderes Gewicht als treibender Kraft hinter der militärischen Medienarbeit misst Götter den titelgebenden "Medienwirkungsannahmen" dieser Akteure zu. Damit möchte sich der Autor von der bisherigen Forschung insofern absetzen, als diese Organisation und Praxis von Medien- und Öffentlichkeitsarbeit des Militärs aus der stillschweigend vorausgesetzten realen Fähigkeit der Massenmedien heraus erkläre, Denken und Handeln von Menschen wirksam zu beeinflussen. Er selbst lenkt dagegen im Rahmen einer "Kulturgeschichte des Militärischen" den Blick stärker auf zeitgenössische Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder der Medien, von denen die praktische Medienarbeit erst ihren Ausgang genommen habe.
Der konzeptionelle Zuschnitt der in sechs Hauptkapitel gegliederten Untersuchung vermag in zweifacher Hinsicht nicht recht zu überzeugen. Zum einen grenzt der Autor seinen Gegenstandsbereich in schwer nachvollziehbarer Weise ein: das Militär und die Massenmedien erscheinen als getrennte gesellschaftliche Systeme, und nur die Interaktionen zwischen diesen Systemen, das heißt im Wesentlichen die 'klassischen' Formen der Öffentlichkeitsarbeit, werden in der Analyse berücksichtigt. Dass das Militär im Verlauf des Untersuchungszeitraums aber auch selbst zu einem massenmedialen Akteur wurde, indem es Propagandaprodukte selbst herstellen ließ und etwa in beiden Weltkriegen Millionen von Flugblättern über und hinter der Front abwarf, wird zwar mehrmals erwähnt, fällt aus dem selbstgesteckten Betrachtungsrahmen allerdings heraus. Auch die deutsche Entwicklung einer nach 1933 zunehmenden Inkorporierung des Massenmediensystems in ein staatliches Propagandaregime lässt sich mit der gewählten Perspektive kaum ausreichend erfassen. Die Lektüre wird des Weiteren ganz praktisch erschwert durch die Abfolge von chronologischen Kapiteln, in denen beide Untersuchungsländer synchron verglichen werden, und langen "Exkurs"-Kapiteln, in denen zu Einzelaspekten beide Länder im Längsschnitt durch den ganzen Untersuchungsraum verfolgt werden. Dem roten Faden der Darstellung lässt sich so nur mit Mühe folgen.
Empirisch liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Zeitraum von 1900 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. In den entsprechenden beiden Kapiteln weist die Darstellung die größte Dichte auf, kommt der Ansatz des Autors am überzeugendsten zum Tragen. Auch die wichtigsten Ergebnisse werden im Wesentlichen in diesem Teil der Arbeit gewonnen. Götter arbeitet zunächst heraus, wie sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland die Marinestreitkräfte als Vorreiter in der Medienarbeit auftraten. Es war erst die durch die Zabern-Affäre 1913 hervorgerufene Krise, die das deutsche Heer unter dem Kriegsminister Falkenhayn nachziehen ließ. Dass verstärkte Medienarbeit in Krisensituationen als probates Lösungsmittel angesehen wurde, um vor sich selbst und vor anderen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, zieht sich als Muster durch den gesamten Untersuchungszeitraum. War eine Form der Medienarbeit, die auf die Stärkung des Ansehens der Streitkräfte und die Sicherung finanzieller Ressourcen zielte, am Vorabend des Weltkrieges bereits etabliert, weitete sich im Zeichen des Stellungskrieges die Medien- und Propagandaarbeit stark aus und überschritt nationale Grenzen, in dem sie sich nicht allein auf die Moral der Heimatbevölkerung, sondern auch auf die neutralen Staaten und die gegnerischen Armeen richtete. Die Medienarbeit des Feindes und deren vermeintliche Wirkmacht fungierten dabei immer wieder als Argument, die eigene Medienarbeit auszubauen. Der Erste Weltkrieg etablierte das Konzept des Medienkrieges und erwies sich damit als entscheidender Katalysator für die Geschichte militärischer Medienarbeit. Während dies für beide Untersuchungsländer gleichermaßen galt, erklären sich die unterschiedlichen Organisations- und Praxisformen der Medienarbeit aus den je unterschiedlichen nationalen Medienbildern, die eng mit der jeweiligen politischen Kultur zusammenhingen. Während die Militärakteure in Großbritannien die Medien und ihre Vertreter eher als gleichberechtigte Partner akzeptierten, deren freiwilliges Engagement man zu fördern und zu unterstützen suchte, nahmen die deutschen Militärs Medien vor allem als Befehlsempfänger war, die es umfassend zu lenken und zu kontrollieren galt.
Die Kapitel zur Zwischenkriegszeit und zum Zweiten Weltkrieg fallen hiergegen viel knapper aus und fügen dem Gesagten nur noch wenig hinzu. In beiden Ländern professionalisierte und routinisierte sich die militärische Medienarbeit in den 1920er und 1930er Jahren, der nächste große Krieg wurde daher von Anfang an als Medienkrieg antizipiert und auch geführt. Die friedens- und kriegstypischen Medienstrategien in Deutschland und Großbritannien ähnelten einander weiterhin, entgrenzten sich aber nach Ausbruch der Kämpfe. Die unterschiedlichen Medienbilder blieben unverändert bestehen.
In der Darstellung wird die in der Einleitung prononciert herausgestellte Frage nach der Rolle von Medienwirkungsannahmen leider nur sehr punktuell verfolgt. Der Autor durchforstet in gründlicher Arbeit die vorliegenden Quellen nach Belegen für solche Annahmen. Analytisch wie quellenkritisch wird dabei nicht immer klar auseinandergehalten, dass Aussagen militärischer Akteure zur vermeintlichen Macht der Medien zwar authentische Wirkungsannahmen widerspiegeln können, aber gleichzeitig oft auch rhetorisches Mittel waren, um in einer bestimmten Situation bestimmte Zwecke zu verfolgen. Der Nachweis, dass die bisherige Forschung durchgehend einem "Propagandasyndrom" erlegen sei und in naiver Weise auf der Annahme starker Medienwirkungen aufbaue, wird nur äußerst flüchtig geführt (26f.). Wenn indes am Ende der Arbeit als zentrales Ergebnis festgehalten wird, "dass messbare Medienwirkungen letztlich kaum eine Rolle für die Entwicklung der militärischen Medienarbeit spielten" (303), stellt sich die Frage, wo etwas anderes jemals behauptet worden wäre.
Die grundlegende These des Buches, wonach Medienwirkungsannahmen "unabhängig von jeder nachweisbaren, beeinflussenden Medienwirkung historisch wirksam waren" (11), erscheint nicht ganz zu Ende gedacht. Denn sie beruht implizit auf einer unhistorischen Rückprojektion der Erkenntnisstandards der späteren empirisch-sozialwissenschaftlichen Medienwirkungsforschung auf die Zeit vor 1945: Wo keine empirischen im Sinne von quantitativ messbaren Belege für Medienwirkungen vorlagen, hätten die zeitgenössischen Akteure eigentlich auch nicht daran glauben dürfen. Doch diese Denkweise war den Zeitgenossen noch nicht bekannt, und folglich orientierten sie sich an anderen Wahrnehmungen, die ihnen eine erfolgreiche oder ausgebliebene Wirkung von Medienarbeit zu belegen schienen und offenbar weithin geteilt wurden. Es wäre interessant gewesen, einer solchen Wissensgeschichte von Medienwirkungen nachzugehen, denn erst hieraus würde sich erklären, wie der Glaube an starke Medienwirkungen, wie ihn der Autor für den gesamten Untersuchungszeitraum durchgehend konstatiert, aufrechterhalten und stetig aktualisiert werden konnte. In diesem Zusammenhang hätte es sich angeboten, die Medienwirkungsannahmen im Militär zu den zeitgenössischen populären und wissenschaftlichen Diskursen über Massenmedien in Beziehung zu setzen, was in der Arbeit leider so gut wie gar nicht geschieht.
Letztlich hängt die Beurteilung des Werkes davon ab, mit welchem Interesse man es zur Hand nimmt: Entgegen des einleitend proklamierten Anspruchs lässt es sich doch am ehesten als eine solide, auf umsichtiger Auswertung der bereits reichlich vorhandenen Forschungsliteratur beruhende Synthese der Geschichte militärischer Öffentlichkeitsarbeit im binationalen Vergleich lesen. Wer sich von dem eigentlich vielversprechenden und innovativen Ansatz, Kommunikationsgeschichte von den zeitgenössischen Medien(wirkungs)vorstellungen her zu denken, angesprochen fühlt, wird dagegen eher enttäuscht, denn das darin liegende Potential wird kaum ausgeschöpft. Es erscheint allerdings durchaus lohnend, in diesem Punkt an die Studie anzuknüpfen.
Benno Nietzel