Sylvain Schirmann / Sarah Mohamed-Gaillard: Georges Pompidou et l'Allemagne (= Georges Pompidou Archives; No. 6), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012, 408 S., ISBN 978-90-5201-058-8, EUR 44,80
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Die "Question Allemande" spielte für die französische Außenpolitik seit dem frühen 19. Jahrhundert immer eine wesentliche Rolle, auch wenn dies in Deutschland oft nicht richtig rezipiert wurde. Deutschland galt und gilt in vielen öffentlichen und regierungsinternen Debatten in Frankreich als "der Andere", mal als Bedrohung, mal als Partner. Insofern müssen sich auch alle Präsidenten und die Spitzen der Verwaltung immer wieder mit Deutschland beschäftigen. Der vorliegende Band versammelt auszugsweise eine Reihe von Quellen, die diese französische Beschäftigung mit Deutschland unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou dokumentieren. Es handelt sich jedoch nicht um eine Quellenedition im klassischen Sinne; Regesten und detaillierte Kommentare fehlen weitgehend. Den beiden Herausgebern geht es vielmehr darum, wesentliche Aspekte der französischen Deutschland-Politik zu dokumentieren. Die Dokumente werden daher auch nur auszugsweise wiedergegeben. Sie stammen zum großen Teil aus den in den Archives Nationales zugänglichen Akten Pompidous, nur ausnahmsweise werden auch andere Archivalien hinzugezogen. Es dominieren die Gesprächsprotokolle der Treffen des Staatspräsidenten mit den deutschen Repräsentanten, allen voran Willy Brandt. Einige der Dokumente werden erstmals publiziert, andere sind schon aus anderen Kontexten bekannt. Insgesamt geht es Sylvain Schirmann und Sarah Mohamed-Gaillard darum, die verschiedenen Aspekte der französischen Deutschlandpolitik unter der Präsidentschaft Georges Pompidous zu dokumentieren.
Zu diesem Zweck wurde der Band in sechs Kapitel eingeteilt. Das erste fasst die Aspekte "Jugend, Kultur und Lehre" zusammen. Vor allem der Ausbau des Französisch-Unterrichts an deutschen Schulen erschien aus Pariser Sicht viel zu schwach, man strebte eine Gleichberechtigung mit Englisch an, die jedoch nicht erreicht wurde. Ein wichtiges Problem war, dass der Bundeskanzler durch die Kulturhoheit der Länder keinen unmittelbaren Einfluss auf den Ausbau des Französisch-Unterrichts hatte. Im zentralistisch organisierten Frankreich wurde dieses Argument vielfach als vorgeschoben wahrgenommen. Dagegen zeigten sich beiden Seiten zufrieden mit der Entwicklung des deutsch-französischen Jugendwerks.
Im zweiten Kapitel geht es um die industrielle Kooperation zwischen beiden Ländern. Insbesondere im Bereich der Luft- und Raumfahrt wurden seit Ende der 1960er Jahre die Kooperation bedeutsam intensiviert. Es blieben jedoch Schwierigkeiten: Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie war viel mehr an einer Kooperation mit den USA interessiert, die nach dem Erfolg des Apollo-Programms technologisch an der Weltspitze standen. Ähnlich war die Situation im Rüstungssektor. Auch wenn der Alphajet ein deutsch-französischer Erfolg war, blieb die deutsche Rüstungsindustrie nach Großbritannien und den USA orientiert. Hinzu kam, dass gerade auch die amerikanische Regierung von Bonn Rüstungskäufe als Kompensation für die von der Bundesregierung gewünschte Stationierung von US-Truppen in Deutschland forderte.
Divergenzen zeigten sich auch in Bezug auf die europäischen Institutionen (Kap. III). Während die Bundesregierung unter Willy Brandt im Prinzip am föderalistischen Leitbild für die Integration Europas festhielt, machte Pompidou klar, dass er einer Stärkung der supranationalen Kompetenzen der EG skeptisch gegenüber stand. Auch die Direktwahl des Europäischen Parlamentes lehnte er ab: Die Gemeinsame Versammlung sei nicht repräsentativ und sie könne es nicht sein (152). Das knüpfte noch sehr stark an der Tradition de Gaulles an.
Besonderes Gewicht hatte in den deutsch-französischen Beziehungen dieser Zeit die Währungsfrage (Kap. IV). Der schrittweise Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, der Wertverfall des Dollars gegenüber den europäischen Währungen und der große Bedeutungsgewinn der Deutschen Mark beunruhigte die Pariser Regierung. Insbesondere der Wertzuwachs der Währung des östlichen Nachbarn führte in der Pariser Elite zu Ängsten vor einer deutschen Hegemonie. Jean René Bernard, einer der engeren Berater Pompidous forderte in einer Aufzeichnung vom 19. Juli 1971 "sehr hart" (193) gegenüber den Deutschen zu sein, die Währungsfragen als nationale Fragen behandelten. Pompidou hingegen setzte hier auf die engen Beziehungen zu Willy Brandt, beklagte sich aber am 19. November 1971 gegenüber Außenminister Walter Scheel, er sei sehr gut informiert über die Politik der USA, Großbritanniens und Russlands (sic!), allerdings wisse er wenig über die Intentionen der deutschen Bundesregierung: "Nous devons être très amis ou être hostiles." (210) Insgesamt warf er Scheel eine mangelnde Kooperationsbereitschaft vor.
Im Gegensatz dazu wurde Pompidou von Willy Brandt sehr ausführlich über die "Neue Ostpolitik" informiert (Kapitel V). Der Kanzler sandte regelmäßig Briefe an den französischen Präsidenten, in denen er die Hintergründe und Fortschritte der Verhandlungen mit den osteuropäischen Staaten und der Sowjetregierung darstellte. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Pompidou die "Neue Ostpolitik" weitgehend unterstützte. Vor allem die Garantie der Unverletzlichkeit der Grenzen und die implizite Aufwertung der DDR als Staat trafen französische deutschlandpolitische Interessen.
Das galt auch für den Status von Berlin in diesem Kontext (Kapitel VI). Pompidou widersetzte sich dem bundesdeutschen Wunsch, West-Berlin zu einem Land der Bundesrepublik zu machen und hielt daran fest, dass die Sicherheit Berlins durch die Präsenz der alliierten Streitkräfte gesichert werde.
Insgesamt dokumentiert die Quellenauswahl einen Wandel in den deutsch-französischen Beziehungen. Während de Gaulle als Staatspräsident noch fraglos von einer Führung Frankreichs in Westeuropa ausgegangen war, bemerkte man ab 1968 in Paris die stärker gewordene Stellung der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem die wirtschaftliche Elite Frankreichs, der Gouverneur der Banque de France, Olivier Wormser, und die Beamten der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums, nahmen ein zunehmendes ökonomisches Übergewicht der Bundesrepublik Deutschland wahr. Insbesondere die als nationalistisch empfundene westdeutsche Währungspolitik und die damit verbundene Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Franc beunruhigte die französische Regierung. Pompidou reagierte hierauf mit einer engen Kooperation mit Willy Brandt, die allerdings nicht zu einer privaten Freundschaft wurde; die Briefe ebenso wie die Gesprächsprotokolle zwischen beiden belegen eine respektvoll-distanzierte Beziehung zwischen beiden. Enge persönliche Beziehungen waren hier vor allem ein politisches Instrument. Auf deutscher Seite, auch das machen die Dokumente deutlich, nahm man die französischen Sorgen durchaus wahr. Vor allem Willy Brandt betonte in vielen Briefen und direkten Gesprächen mit dem Staatspräsidenten die enge Bindung der Bundesrepublik an Europa und den Westen insgesamt. Auf Unverständnis stieß in Bonn allerdings bisweilen die Tatsache, dass die deutsche Bereitschaft zu einer vertieften politischen Integration ausgerechnet in Paris gebremst wurde.
Guido Thiemeyer