Christoph Becker-Schaum / Philipp Gassert / Martin Klimke u.a. (Hgg.): "Entrüstet Euch!". Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 379 S., 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77385-2, EUR 29,90
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Entrüstet haben sich alle. Die Friedensbewegung über den NATO-Doppelbeschluss und dessen Befürworter über den massenhaften Protest dagegen. Aber auch innerhalb der Lager gab es viel Entrüstung übereinander, denn sowohl die Gegner als auch die Befürworter von neuen Mittelstreckenraketen bildeten keine geschlossenen Formationen. Im Streit über die angemessenen Instrumente zur Wahrung von Sicherheit und Frieden wähnten sich alle im Recht. Die Kontroverse konnte zum beherrschenden Thema von existentiellen Ausmaßen nur deshalb werden, weil es nicht nur um die Raketenstationierung ging, sondern um eine umfassende Nuklearkrise, in der alles zur Sprache kam, was diese Gesellschaft seit über einem Jahrzehnt bewegte. In dieser Auseinandersetzung, so die Herausgeber in ihrem einleitenden und die Ergebnisse übersichtlich zusammenfassenden Beitrag, handelte es sich "um sehr viel mehr als rein außen- und sicherheitspolitische Fragen". Vielmehr "manifestierten" sich hier "der rapide soziokulturelle Wandel seit den 1960er Jahren und die wirtschaftlichen Umbrüche seit den 1970er Jahren." (8)
Um sich der Komplexität dieses gewaltigen Themas annähern zu können, hat sich ein ungewöhnlich großer Kreis von Herausgebern zusammengefunden. Sie sind einerseits an dem an der Universität Augsburg und dem Heidelberg Center for American Studies verankerten Forschungsprojekt The Nuclear Crisis: Cold War Cultures and Politics of Peace and Security 1975-1990 (www.nuclearcrisis.org) beteiligt und haben andererseits im Namen der Heinrich Böll Stiftung mitgewirkt. In 20 Beiträgen werden unterschiedlichste Aspekte der Problematik behandelt, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden können. Eine Gruppe von Autoren befasst sich mit der nationalen und internationalen Politikgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der sicherheitspolitischen Diskurse. Die Friedensbewegung wird unter verschiedenen Fragestellungen (Protagonisten, Institutionen, Mentalitäten, Geschlechterbeziehungen, Umweltfragen, Mediennutzung) sowie im Hinblick auf die Friedens- und Konfliktforschung, die verschiedenen Orte ihres Auftretens und - ganz wichtig - ihre internationale Vernetzung untersucht. Der Schwerpunkt liegt auf der westdeutschen Entwicklung, auch wenn der DDR einige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Weiterhin finden sich Aufsätze zu verschiedenen Organisationen von den politischen Parteien über Kirchen und Gewerkschaften bis hin zur Polizei. Zwei Seiten derselben Medaille werden anhand von nuklearen Untergangsszenarien und Zivilschutzmaßnahmen beleuchtet.
Durch die Kombination all dieser Fragestellungen gelingt es, die Auseinandersetzung um die Stationierung der Mittelstreckenraketen in einen größeren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen und auch die Fixierung auf die frühen 1980er-Jahre zu vermeiden. Schon die sicherheits- und rüstungspolitische Seite der Kontroverse lässt erkennen, dass es sich um eine waffentechnische Entwicklung handelte, die schon längst im Gange war, als Bundeskanzler Schmidt in seiner bekannten Londoner Rede 1977 auf das in seinen Augen gefährliche Ungleichgewicht hinwies, das durch die seit 1976 stationierten sowjetischen SS-20 gegeben war. Zu ergänzen ist, dass Schmidt gegenüber Breschnew schon im Oktober 1974 die Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen moniert hat. Bei seiner ersten Begegnung als Bundeskanzler mit dem sowjetischen Parteichef kam allerdings nicht alles zur Sprache, was schon seit der Wende von den 1960er- zu den 1970er-Jahren in den westlichen Planungen von neuartigen Mittelstreckenwaffen (Pershing II und Cruise Missiles) vorangetrieben wurde. Darüber gut informiert hat die Sowjetunion dann mit den SS-20 eine Waffe neuer Qualität gebracht, der die NATO im Moment noch nichts entgegenzusetzen hatte und die es dem Westen erlaubte, von "Nachrüstung" zu sprechen. Tatsächlich handelte es sich um ein Wettrüsten in einem Bereich, der bei den 1972 ausgehandelten amerikanisch-sowjetischen Rüstungsbegrenzungsabkommen ausgeblendet worden war. Generell ist zu unterstreichen, dass die Entspannungspolitik in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre Fortschritte im Bereich der militärischen Entspannung vermissen ließ und zur großen Enttäuschung der Bundesregierung auch bei den MBFR-Verhandlungen keinen Durchbruch auf dem Weg zu einem europäischen Sicherheitssystem gebracht hat. Dies zu übersehen käme einer romantisierenden Sicht der Entspannungspolitik gleich. Das heißt aber auch, dass es problematisch ist, für die Zeit der Auseinandersetzung über die Mittelstreckenraketen von einem Rückfall in den Kalten Krieg zu sprechen. Es handelte sich eher um Fragen, die seit den frühen 1970er-Jahren - gemeinhin als Hochzeit der Entspannung bezeichnet - unbeantwortet waren. Die Vorstellung vom zweiten Kalten Krieg, die in der Literatur weithin anzutreffen ist, geistert auch durch diesen Band. Demgegenüber sollte man in der Historiografie zu einer größeren Präzisierung im Begriffsfeld Ost-West-Konflikt/Kalter Krieg/Entspannung kommen.
Was der massenhafte Protest gegen die im Westen, aber auch im Osten stattfindende Raketenstationierung für die politische Kultur der Bundesrepublik bedeutete, erscheint angesichts der tiefgehenden Polarisierung auf den ersten Blick überraschend, bei näherem Hinsehen, wie es in diesem Band geschieht, aber überzeugend. Denn die Bedeutung dessen, was historisch korrekt nun nicht mehr Nachrüstungsdebatte genannt werden sollte, sehen die Herausgeber in der ungebrochenen Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik als einer in ihrem "post-nationalsozialistischen Konsens" (29) auf die Norm des Friedens verpflichteten Gesellschaft und darüber hinaus in einer Intensivierung der seit Gründung der Republik vorgegebenen Westbindung durch einen sich verstetigenden Prozess der Verwestlichung politischer Formen und gesellschaftlicher Vielfalt. Schließlich: Der in der ganzen Debatte aufflammende sicherheitspolitische Richtungsstreit änderte nichts an der auf multilaterale Einbindung und internationalen Ausgleich gerichteten Außenpolitik der Bundesrepublik, was sich schon an der Fortsetzung der sozial-liberalen Ostpolitik nach dem 1982 erfolgten Regierungswechsel ablesen lässt.
Lohnend wäre es, genauer die gesellschaftlichen und außenpolitischen Auseinandersetzungen zu vergleichen, die zwischen 1968 und 1973 einerseits und 1979 und 1983 andererseits die zweite Formationsphase der Bundesrepublik geprägt haben. Sie wiesen auch in die Zukunft. Mit aller Vorsicht glauben die Herausgeber darauf hinweisen zu können, die "Wiedervereinigung Europas seit 1989/90" sei aufgrund der transnationalen Aktivitäten der Friedensorganisationen "gedanklich vorbereitet" worden (31). Politisch, so könnte man hinzufügen, wurde sie dadurch offen gehalten, dass die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre einsetzende kommunikative Wende in den Ost-West-Beziehungen trotz immer wieder auftretender Spannungen Bestand hatte. Es konnte ein "gesamteuropäisches Bewusstsein" entstehen. Die Nuklearkrise erscheint in dieser Sicht tatsächlich als "Wegbereiterin" dazu, "so wie sie im Inneren den demokratischen Konsens stärken half." (32)
Gottfried Niedhart