Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu (eds.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300-1900, Aldershot: Ashgate 2009, XXXIV + 338 S., ISBN 978-0-7546-6473-4, GBP 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Anja Rathmann-Lutz: "Images" Ludwigs des Heiligen im Kontext dynastischer Konflikte des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 2010
Klaus Oschema: Bilder von Europa im Mittelalter, Ostfildern: Thorbecke 2013
Lucie Laumonier: Solitudes et solidarités en ville. Montpellier, mi XIIIe - fin XVe siècles, Turnhout: Brepols 2015
André Holenstein: "Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), Epfendorf: bibliotheca academica 2003
Jon Mathieu: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit, Basel: Schwabe 2011
Jon Mathieu / Simona Boscani Leoni (Hgg.): Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Der von Wim Blockmans, André Holenstein und Jon Mathieu herausgegebene Band präsentiert in Auswahl und teilweise erheblich überarbeiteter Form Ergebnisse einer internationalen Tagung, die im September 2005 in Ascona / Schweiz stattfand. Zur Abrundung der Thematik wurden zusätzliche Beiträge ergänzt. Während es damals um Prozesse der Staatsbildung "von unten" ging, stehen die Aufsätze nun unter dem Leitmotiv "Empowering Interactions". In seiner Einleitung beschreibt André Holenstein das zugrundeliegende methodische Konzept, das den Staat als Ergebnis kommunikativer Prozesse betrachtet, als "a specific communicative situation emerging from diverse, but nevertheless reciprocal interests and demands from both the state's representatives and members of local societies" (26). Es folgt eine Darstellung des theoretischen Hintergrunds unter Verweis auf Autoren wie Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Roger Chartier.
Der englischsprachige Band besteht aus vier Teilen, die von kurzen Vorstellungen der einzelnen Autoren, Abstracts, Vorwort, Einleitung und einem gemischten Orts-, Sach- und Personenregister umrahmt werden. Die ersten drei Sektionen folgen einer geographischen Einteilung und beschäftigen sich mit Südeuropa (I), Mittel- und Osteuropa (II) und Nord- und Westeuropa (III). Der vierte Teil wendet sich historiographischen und konzeptionellen Debatten zu und enthält eine mitunter polemische und thesenhafte Auseinandersetzung mit Staatsbildungsprozessen.
Zu den interessantesten Beiträgen gehört die Einleitung von André Holenstein, der als Ziel formuliert, die Staatsbildung nicht mehr ausschließlich als Produkt von Herrschern, Dynastien und Amtsträgern zu sehen, sondern eher als unbeabsichtigtes Ergebnis eines interaktiven Prozesses, bei dem staatliche Instanzen auf komplexe soziale Probleme und eine "Nachfrage" bzw. Beschwerden unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen wie Stände, Korporationen, verschiedene Typen von Gemeinden / Gemeinschaften und Untertanen antworteten (5). Der frühneuzeitliche Staat sei viel zu lange teleologisch im Sinne der Vorgeschichte der späteren Nationalstaaten interpretiert worden. In Wirklichkeit habe es sich jedoch um eine durch eine Vielzahl unterschiedlicher Machtbeziehungen gekennzeichnete societas civilis cum imperio gehandelt. Historiker hätten deshalb zu Recht vor der Falle des Staats-Konzepts im Sinne Max Webers ("Weberian trap", 7) gewarnt. Holenstein ordnet seine Thesen in eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen historiographischen Strömungen ein. Seine Überlegungen werden im vierten und letzten Teil des Buches durch in der Regel sehr kurze Beiträge renommierter Wissenschaftler kommentiert und teilweise auch heftig kritisiert (Wim Blockmans, Peter Blickle, Wolfgang Reinhard, Jon Mathieu, Barbara Stollberg-Rilinger, Angelo Torre). Wolfgang Reinhard dokumentiert seine Einwände bereits deutlich im Titel: "No Statebuilding from Below! A Critical Commentary". Er spricht für die Frühe Neuzeit sowohl den Niederlanden als auch der Schweiz jeden staatlichen Charakter ab, es habe sich nicht einmal um Vorläufer eines Staates gehandelt (302). In der Absicht, das Konzept der Staatsbildung von unten zu widerlegen, präsentiert er einen Gegenentwurf und fordert: "Especially today, it has become possible and even necessary to deconstruct that European god called 'the state', to reduce it from the inevitable and therefore omnipresent goal and essence of world history to a mere product of historical contingency" (303). Auf diese provokanten Thesen reagiert wiederum Jon Mathieu unter Bezugnahme auf das Projekt der European Science Foundation zur Entstehung des modernen Staates in Europa, das in der Zeit von 1995 bis 2000 zu einer Reihe internationaler Publikationen geführt hatte. Mit Wim Blockmans kommt einer der wesentlichen Akteure dieses Großprogramms zu Wort. Der damals ebenfalls beteiligte Peter Blickle weist auf Forschungen zu Kommunalismus, guter Policey, Gravamina und Suppliken hin. Barbara Stollberg-Rilinger geht unter anderem auf die Bedeutung und den Nutzen der Kommunikationstheorie und systemtheoretische Ansätze ein.
Abgesehen von theoretisch-methodologischen Artikeln enthält das Buch eine Reihe sehr interessanter Fallstudien, die Chancen und Grenzen der diskutierten Interpretationsmodelle illustrieren. Besonders überzeugend wirkt die Betonung der "von unten" ausgehenden Einflüsse für die Schweizer Beispiele, wobei vor allem die Beiträge von Simon Teuscher zur Verwaltung des Berner Territoriums (1420-1450) und von Randolph C. Head zu Thurgau und Graubünden (1520-1660) hervorzuheben sind. Daniel Schläppi wendet sich der Bedeutung der Besitzverhältnisse für die Staatsbildung in der älteren Schweizer Geschichte zu und betont die Katalysatorrolle gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Sandro Guzzi-Heeb untersucht die Unterstützung eines Banditen durch die örtliche Bevölkerung im Wallis des 19. Jahrhunderts. Sehr interessant sind die von Niels Grüne (Rheinpfalz, um 1760-1810), Mats Hallenberg (Konflikte um das schwedische Steuerpachtsystem des 17. Jahrhunderts) und Reemda Tieben (Rolle von Ständeversammlungen und Vertretung von Hausvätern in Ostfriesland, 1611-1744) angesprochenen Fälle. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsweise großräumiger Herrschaft und der für Regierende und Regierte äußerst wichtigen Sammlung möglichst genauer Informationen ist der Aufsatz von Arndt Brendecke zu den Beziehungen Spaniens mit seinem amerikanischen Kolonialreich hochinteressant. Hier spielten sowohl unverlangte Berichte, Visitationen als auch gezielte "Fragebögen" eine wichtige Rolle. Das von Endre Sashalmi vorgestellte zaristische Russland weist Verhältnisse auf, die sich von allen anderen beschriebenen Gebieten vollkommen unterscheiden. Der Autor kommt daher zum Ergebnis, dass die meisten für die westeuropäische Geschichte entwickelten Modelle und Erklärungsmuster auf das moskowitische Russland nicht anwendbar seien (135). Auch Stefan Brakensiek beschreibt in Form von Vergleichen zwischen Deutschland, Böhmen und Ungarn (1650-1800) für die außerdeutschen Gebiete teilweise stark von Westeuropa abweichende Gegebenheiten. Vincent Challet befasst sich anhand spätmittelalterlicher französischer Bauernaufstände mit sehr aufschlussreichen Aspekten der Gemeinwohl- und Res-Publica-Terminologie. Adelaide Millán da Costa untersucht die städtische Vertretung auf mittelalterlichen portugiesischen Ständeversammlungen. Der Themenbereich Italien / Kirchenstaat ist bei den Fallstudien mit insgesamt fünf Aufsätzen von Roberto Leggero (Seegemeinden in Nord-West-Italien, 12.-14. Jahrhundert), Giorgio Chittolini (Lombardei, 15. Jahrhundert), Bertrand Forclaz (lokale Konflikte im Kirchenstaat, 17. Jahrhundert), Caroline Castiglione (adelige Gerichtsbarkeit in Dörfern in der Umgebung Roms, 18. Jahrhundert) und Roy Garré (Gewohnheitsrecht in der italienischen Rechtswissenschaft der Frühen Neuzeit) thematisch stark vertreten.
Insgesamt gesehen handelt es sich um ein intellektuell sehr anregendes Buch. Gerade durch seine kontrovers geführten Debatten und teilweise sehr zugespitzten gegensätzlichen Thesen fordert es zum Nachdenken und Diskutieren auf und liefert wichtige und weiterführende Denkanstöße. Besonders lesenswert sind die historiographisch-methodischen Teile, deren Positionen mitunter in einem reizvollen und interessanten Kontrast zu den Ergebnissen der Fallstudien stehen. Dabei zeigen die auf die Schweiz bezogenen Beispiele deutlich die Bedeutung der Impulse "von unten", während dies in anderen geographischen Räumen weitaus weniger der Fall war.
Gisela Naegle