Peter Opitz (ed.): The Myth of the Reformation (= Refo500 Academic Studies; Vol. 9), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 382 S., 39 Abb., ISBN 978-3-525-55033-5, EUR 120,00
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Von ihren Anfängen an war die Reformation von Deutungsansprüchen umkämpft - und jede Zeit, die sich identifizierend oder abgrenzend auf sie bezog, produzierte ihre "Mythen". Mit einigen davon befasst sich der hier anzuzeigende Band, der sich einer interdisziplinären internationalen Tagung von 2011 verdankt. Einleitend heißt es: "The overall title, 'The Myth of the Reformation', encouraged critical perspectives on traditional beliefs about the sixteenth century Reformation(s)" (5). Und so machen sich die 19 versammelten Beiträge daran, ausgewählte "Mythen" rund um das endgültige Auseinanderbrechen der abendländischen Kirche zu dekonstruieren. Wie sie das tun, soll im Folgenden exemplarisch nachgezeichnet werden.
Gleich zu Anfang stellt sich Emidio Campi der Frage, ob die Reformation ein deutsches Ereignis war (9-31). Zu ihrer Beantwortung macht er sich nach einem kurzen begriffsgeschichtlichen Anlauf, der pointiert die Alleinstellungsmerkmale der Reformation im Vergleich zu monastischen oder institutionellen reformationes des Mittelalters herausstellt (10-16), an einen wertenden Überblick über die Reformationsdeutung und -geschichtsschreibung seit dem späten 17. Jahrhundert (16-23). Doch nicht nur dessen Selektivität - Namen wie z. B. Albrecht Ritschl, Ernst Troeltsch oder Karl Holl sucht man vergebens - regt zur Diskussion an. In der jüngeren Forschung diagnostiziert Campi nämlich im Wesentlichen zwei Strömungen: Die eine relativiert unter Betonung der Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Reformation sowie des Konfessionalisierungsparadigmas die Bedeutung der Ereignisse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und votiert für die Rede von der "Langen Reformation" (19f.); die andere, getragen von "dissenters from this apparent consensus" (20), stellt die besondere Bedeutung der Reformation im engeren Sinne heraus und setzt die Pluralität des 16. und 17. Jahrhunderts gegen die von der Konfessionalisierungsthese behauptete Uniformität (ibd.). Während Campi deutliche Sympathien für die erstgenannte Strömung bezeugt (23-26), steht für die letztgenannte bekanntlich u. a. Thomas Kaufmann, dessen Geschichte der Reformation Campi kritisch in den Blick nimmt (21f.): Er gesteht ihr zwar außerordentlichen Rang zu, allerdings nur als Beitrag zur Erforschung der deutschen Reformation; denn durch ihre Fokussierung auf Luther und ihre Zentrierung auf das Reich gerate ihm die Reformation zum "German phenomenon par exellence" - eine nach Campis Einschätzung hoch problematische Haltung (22). Doch damit nicht genug: "Indeed we must beware of Kaufmann's hidden agenda": Er behaupte die Einheit der Reformation durch ihre Abhängigkeit von Luther - "and here we are, once again, back in the world of manifest destiny and the 'Eternal German'!" (ibd.) Ob nun Campis scharfer Einwand gegen Kaufmanns Reformationsdeutung Zeugnis ablegt von einer weniger einseitigen und konfessionell programmatischen Reformationsdeutung als die jenen "dissenters" unterstellte, bliebe freilich zu fragen.
Nicht minder anregend ist die Studie von Ignasi Fernández Terricabras, die der Frage nachgeht, ob die Katholische Reform ein spanisches Ereignis war (32-58), und somit methodisch und inhaltlich in direktem Gespräch mit Campis Beitrag gelesen werden sollte. Denn wie es in der Forschung wirkmächtige Tendenzen gab, die Aufbrüche Luthers und damit die Reformation zum deutschen Ereignis zu stilisieren, herrschte auch in der national geprägten spanischen Forschung das Bild vor, die katholische Reform sei aufgrund der in und mit ihr realisierten Anliegen sowie ihrer Protagonisten letztlich ohne die spanischen Einflüsse gar nicht denkbar und zeuge so von der traditionellen Größe und Macht der spanischen Nation und des spanischen Geistes (32-36). Überzeugend macht sich Terricabras daran, diesen Teil eines umfassenden Nationalmythos zu dekonstruieren, indem er herausstellt, dass der spanische Beitrag zu den Reformanstrengungen der Papstkirche zwar keineswegs unterschätzt, aber eben auch nicht überbewertet werden darf (36-49). So weist er nach, dass es gerade die innerspanischen Reformbemühungen u. a. um monarchische Kontrolle des nationalen Klerus waren, die dem Einfluss spanischer Prälaten auf dem Tridentinum im Weg standen (z. B. 41).
Neben derartigen Nationalmythen rücken auch Narrative in den Blick, die sich mehr mit dem theologischen Gehalt der Reformation und seiner medialen Kommunikation befassen. So stellt Bridget Heal die in diesem konkreten konfessionellen Fall merkwürdig anmutende Frage, ob es sich bei der lutherischen Reformation tatsächlich um ein non-visuelles Ereignis gehandelt habe (321-355) - und verneint diese. Anhand intensiver Detailstudien vornehmlich an Altarbildern und Buchillustrationen (Bildmaterial 339-350) zeichnet sie die wachsende Bedeutung von Darstellungen des gekreuzigten oder auferstandenen Christus und die damit einhergehenden theologischen Akzentverschiebungen im deutschen Luthertum vom frühen 16. bis zum späten 17. Jahrhundert nach (324-337) - Verschiebungen, die sich ja auch am Liedgut und an theologischer Literatur überhaupt nachweisen ließen. Ob sich Heal damit gegen die These, die lutherische Reformation sei im Vergleich zu Spätmittelalter und Katholischer Reform ein non-visuelles Ereignis gewesen, stellen kann, bleibt allerdings fraglich; schließlich ist für ihren Beweisgang eine Annahme unverzichtbar: die der sogenannten "langen Reformation" (z. B. 323, 327). Denn nur, wenn man die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts als "early Reformation" akzeptiert (z. B. 323f.) und den Untersuchungszeitraum unter dem Label "Reformation" bis weit ins 17. Jahrhundert ausdehnt - wozu jede methodisch-inhaltliche Rechenschaft ausbleibt -, ist das von Heal herangezogene Bildmaterial zur Entkräftung jener wo auch immer in aller Schärfe vertretenen These überhaupt heranziehbar. Sie scheint sich allerdings dieser grundsätzlichen Problematik bewusst zu sein, spricht sie doch im Fazit zu ihrer Studie entgegen ihrer Grundannahme von "post-Reformation Lutheranism" (338).
Die lutherische Christologie steht auch in dem ihrem Verhältnis zum Aristotelismus nachspürenden gehaltvollen Beitrag von Hendrik Klinge zu dem Tübinger Philosophen und Mediziner Jakob Schegk im Zentrum (233-247). Schegk (eigentlich Degen, 235) unternahm im Rahmen der innerprotestantischen Auseinandersetzungen um die Ubiquität auf Seiten der Verteidiger der Allgegenwart mit seinem Werk "De una persona" 1565 (235f.) den Versuch, unter Rekurs auf Aristoteles die Ubiquitätslehre gegen die Vorwürfe Bezas philosophisch abzufedern; dabei bringen ihn seine Vermittlungsbemühungen zwischen Schulphilosophie und theologischen Lehrgehalten zu Schlüssen, die positionell eben nicht mehr kongruent sind mit den Auffassungen mancher theologischer Verteidiger der Allgegenwart und Schegk so über die eingespielten Argumentationsmuster seiner Zeit hinausführen (236-243). Entsprechend ist sein Fall ein prägnantes Beispiel dafür, wie systematische Offenheit kontroverstheologisch instrumentalisiert werden konnte (243-245), was Klinges Studie auch diskursanalytisch aufschlussreich macht.
Nach dieser kursorischen Vorstellung steht der Wert des anzuzeigenden Bandes vor Augen: Er deckt nicht nur ein weites thematisch-inhaltliches Spektrum ab, sondern bietet auch die bemerkenswerte Möglichkeit, einzelne Beiträge miteinander ins Gespräch zu bringen - durchaus auch kritisch. Dabei regt er zu Diskussionen an, die weit über sein eigentliches Themenfeld hinausweisen und sich in einschlägige gegenwärtige Debatten nicht nur rund um das Reformationsjubiläum einzeichnen lassen.
Christian Volkmar Witt