Werner Freitag / Wilfried Reininghaus (Hgg.): Beiträge zur Geschichte der Reformation in Westfalen. Band 2: Langzeitreformation, Konfessionskultur und Ambiguität in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge; 47), Münster: Aschendorff 2019, 391 S., 2 Kt., 28 s/w-Abb., 4 Tbl., ISBN 978-3-402-15132-7, EUR 44,00
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Das Reformationsjubiläum von 2017 war der Historischen Kommission für Westfalen ein so wichtiger Gedenktag, dass sie die reformatorische Entwicklung im westfälischen Raum auf zwei Tagungen von unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachtete. Während die erste Tagung 2015 die Anfänge der Reformation im "Langen 15. Jahrhundert" beleuchtete [1], wurde der Blick 2017 auf die Besonderheiten der Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelenkt.
Der vorliegende Tagungsband umfasst elf Beiträge in drei Sektionen. Die Aufsätze des ersten Abschnitts befassen sich mit dem Thema der Langzeitreformation. Zu bekannten Orten mit einer solchen Entwicklung zählen die Städte Dortmund und Essen, mit denen sich Christian Helbich auseinandersetzt. In beiden Städten, die nahezu vollständig vom Territorium der Vereinigten Herzogtümer umgeben waren, hatten die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg diverse Rechte und damit auch Einfluss auf die Kirche. Nachdem beide Städte in Religionsfragen lange Zeit dem herzoglichen Vorbild der "via media" gefolgt waren, führten sie erst in den 1550er und 1560er Jahren die lutherische Reformation ein.
Auch die reformatorische Entwicklung in Rietberg war von langer Dauer, wie Alwin Hanschmidt vor Augen führt. In der kleinen Grafschaft vollzogen sich die Veränderungen unter dem Einfluss Hessens sowie der Grafenhäuser Hoya, Lippe und Ostfriesland, zu denen die Rietberger teils in Lehnsabhängigkeit standen, teils in Heiratsbündnissen verbunden waren. Erst in den 1560er Jahren ist das evangelische Bekenntnis in Rietberg sicher belegt. Es hatte nur rund 30 Jahre lang Bestand, bevor es von der durch Jesuiten und Franziskaner getragenen Rekatholisierung abgelöst wurde.
Bastian Gillner befasst sich in seinem klar strukturierten Beitrag mit der westfälischen Adelslandschaft, die mehrere Hundert Herrensitze unterschiedlichster Größe und Privilegierungen umfasste. Gillner kann zeigen, dass die Reformation keinen unmittelbaren Einfluss auf die Adelshäuser nahm. Der westfälische Adel vertrat nur dann eine protestantische Haltung, wenn es darum ging, bischöflich-kirchliche Übergriffe auf lokale Freiheiten abzuwehren. Letztlich konnte sich die katholische Konfession dauerhaft im westfälischen Adel verankern, während der Protestantismus die Ausnahme blieb.
Die Beiträge der zweiten Sektion befassen sich mit der Konfessionskultur im Spiegel von Gottesdienst- und Frömmigkeitspraktiken. Christian Peters untersucht den Anteil Westfalens an dem von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard entwickelten Paradigma der Konfessionalisierung. Peters betont, dass der westfälische Raum erheblichen Anteil an dieser reichsweiten Entwicklung hatte. Hier kristallisierte sich ein besonders breites Spektrum innerevangelischer Richtungen heraus, zu denen nicht nur Gnesiolutheraner, Philippisten und Reformierte gehörten, sondern auch Anhänger der auf Erasmus von Rotterdam zurückgehenden "via media".
Nicolas Rügge betrachtet die lippischen Kirchen im Spiegel der lutherischen Visitation von 1542. Er kontrastiert die Ergebnisse mit der Visitation, die 1549 - zur Zeit des Augsburger Interims - im Auftrag des Bischofs von Paderborn durchgeführt wurde. Die Protokolle beider Befragungen geben nicht nur Auskunft über die Pfarrerschaft, sondern auch über die Organisation der Gemeinden und ihre Ökonomien.
Der Beitrag von Anna-Lena Schumacher befasst sich mit der lutherischen Katechese in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Während in Soest Luthers Kleiner Katechismus im Schulunterricht zur Anwendung kam, nahm in der Kirche von Sonneborn (Landkreis Lippe) die bildliche Darstellung katechetischer Inhalte auch für die erwachsenen Gläubigen einen großen Stellenwert ein. Ebenso diente das Epitaph mit Katechismustexten, das dem evangelischen Pfarrer Hermann Caesarius (†1620) in der Kirche St. Othmar in Dinker (Landkreis Soest) gewidmet war, der Unterweisung der gesamten Gemeinde.
Ingrid Buchhorn untersucht das reformatorische Geschehen in der Stadt Hamm. Anfang des 17. Jahrhunderts hatte sich in Hamm, einer Landstadt im Herzogtum Jülich-Kleve-Berg, die im Laufe von Jahrhunderten immer größere Unabhängigkeit von ihrer Landesherrschaft errungen hatte, das reformierte Bekenntnis als Mehrheitskonfession etabliert. 1611 richteten die reformierten Pfarrer sowie der städtische Rat eine presbyterial-synodale Kirchenorganisation ein.
In der dritten Sektion des Bandes sind Artikel versammelt, die sich mit religiösem Dissens, konfessioneller Koexistenz und Ambiguität befassen. Zunächst wirft Volker Tschuschke einen Blick auf das westliche Münsterland, wo sich die lutherische Reformation letztlich nicht gegen die überkommenen kirchlichen Strukturen durchsetzen konnte. Dennoch hatten sich hier bis in die 1550er Jahre mehrere mennonitische Täufergemeinden etabliert, darunter bedeutendere wie diejenigen in Bocholt und Vreden.
David M. Luebke untersucht das reformatorische Geschehen in Kleinstädten des Fürstbistums Münster, namentlich in Warendorf. Obwohl der Bischof die katholische Konfession als bindend vorgab, ließ der städtische Magistrat die religiöse Koexistenz von Katholiken und Lutheranern in seinen Mauern zu. Um den sozialen Frieden zu wahren und die städtische Autonomie nicht zu gefährden, bemühte sich der Rat darum, konfessionelle Aspekte im öffentlichen Leben auszuklammern und eine "bewusste Unwissenheit bezüglich religiöser Neigungen innerhalb der Bürgerschaft" (313) zu kultivieren.
Ebenso wie Luebke befasst sich auch Lena Krull mit einem Beispiel für konfessionelle Ambiguität. Obwohl Lemgo seit dem Röhrentruper Rezess von 1617 als lutherische Stadt innerhalb der reformierten Grafschaft Lippe anerkannt war, bestand mit der Gemeinde St. Johann auch innerhalb der Lemgoer Mauern eine reformierte Gemeinde. Trotz zahlreicher konfessioneller Streitpunkte wurde grundsätzlich ein geregeltes Zusammenleben von Lutheranern und Reformierten in der Stadt etabliert.
Sebastian Schröder stellt Verlauf und Wahrnehmung des reformatorischen Geschehens im Benediktinerinnenkloster Herzebrock (Landkreis Gütersloh) vor. Das Bemühen des Osnabrücker Fürstbischofs Franz von Waldeck, 1543 die Reformation in seinem Territorium und damit auch im Kloster Herzebrock einzuführen, führte zu umfangreichen Aushandlungsprozessen mit den Nonnen. Viele ihrer überkommenen Glaubens- und Frömmigkeitspraktiken wurden ihnen weiterhin zugestanden und auch in der ihnen unterstehenden Pfarrkirche konnten liturgische Neuerungen lange Zeit verhindert werden.
Der Tagungsband stellt eine erfreulich breite Palette differenzierter Studien zur Reformation im westfälisch-lippischen Raum zusammen, die einige unbekannte Sachverhalte in den Fokus der Forschung rücken. Hierzu gehört auch die Dokumentation eines Konzerts, das im Rahmen der Tagung stattfand und bei dem Lieder der Reformationszeit zu Gehör gebracht wurden. Unter dem Titel "Bekenntnis, Trost und Gotteslob" sind die Gesangs- und Orgel-Stücke auf einer beiliegenden Compactdisc zu hören. Hervorzuheben ist, dass damit auch dieser musikalische Programmpunkt der Tagung als wissenschaftlicher Beitrag ernst genommen wird.
Anmerkung:
[1] Tagungsband: Werner Freitag / Wilfried Reininghaus (Hgg.): Beiträge zur Geschichte der Reformation in Westfalen. Band 1: "Langes" 15. Jahrhundert - Übergänge und Zäsuren (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge; 35), Münster 2017.
Sabine Arend