Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie - Literatur - Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 67), Bremen: edition lumière 2012, 500 S., (Jena: HKD 2012, ISBN 978-3-941563-17-9), ISBN 978-3-943245-02-8, EUR 44,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andreas Bähr: Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Reinbek: Rowohlt Verlag 2017
Ulrich Heinen (Hg.): Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Wiesbaden: Harrassowitz 2011
Dario Tessicini / Patrick J. Boner (eds.): Celestial Novelties on the Eve of the Scientific Revolution 1540-1630, Florenz: Leo S. Olschki 2013
Mit dem von Klaus-Dieter Herbst herausgegebenen Sammelband liegt der mittlerweile fünfte Forschungsbericht der "Acta Calendariographica" vor. Diese durch ihn begründete Reihe widmet sich der Analyse frühneuzeitlicher Schreibkalender in unterschiedlichen Perspektivierungen und bietet durch die kommentierte Erfassung einzelner Bestandsgruppen und durch Reprints ausgewählter Kalenderreihen eine wichtige Grundlage für die weitere Erforschung dieser Textsorte.
Seit ihrer Etablierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts strukturierten die Schreibkalender das alltägliche Leben und vermittelten in mit der Zeit immer weiter ausdifferenzierten Zuschnitten Handlungsorientierung, Unterhaltung und Wissen, das weit über den engen kalendarischen Rahmen hinausreichte. Gezielte Recherchen der letzten Jahre förderten insbesondere durch die spektakulären Sammlungsfunde in Altenburg und Krakau [1] beachtliche Bestände zu Tage, welche für die Kalenderforschung einen Quantensprung darstellen - darunter fast lückenlos erhaltene Kalenderreihen, die in Einzelfällen mehr als ein Jahrhundert überspannen. Zumindest für die Zeit ab den 1640er Jahren, in denen die inhaltliche Differenzierung der Kalender einsetzt, ist es nun möglich, sich auf einer völlig neuen empirischen Basis dem Komplex 'Schreibkalender' anzunähern.
Herbst, der den Bestand in Altenburg wiederentdeckte, verantwortete dort 2011 eine interdisziplinäre Tagung, aus der die 22 Beiträge des Sammelbandes zum Großteil hervorgingen. [2] Basierend auf der erweiterten Quellenlage und geleitet von unterschiedlichen fachlichen Zugängen und Erkenntnisinteressen entwerfen die Studien ein beeindruckendes 'Leistungsspektrum' der Kalender. Sie sensibilisieren für das Medium und seine Diversifikationen, werfen syn- wie diachrone Fragestellungen auf, die auf der früheren, eingeschränkten Materialbasis nicht oder nur spekulativ hätten beantwortet werden können, und justieren bisherige Thesen zum historischen Kalenderwesen neu, etwa in Bezug auf bestimmte Produktionsorte (zum Nürnberger Kalenderwesen Klaus Matthäus; zur Verortung der Kalender im periodischen Schrifttum und in der Medienlandschaft Thüringens Werner Greiling). Der Titel "Astronomie - Literatur - Volksaufklärung" benennt dabei drei zentrale Untersuchungsfelder:
Kalender stellen für die Astronomiegeschichte ein wichtiges, jedoch erst in Ansätzen erforschtes Quellencorpus dar - in Hinblick auf die Kalendarien wie auch auf die weiteren Bild- und Textbestandteile, über die astronomisches Wissen verhandelt und multipliziert werden konnte. Diese Bedeutung exemplifiziert Richard L. Kremer, der an Danziger Kalendern zwischen 1540 und 1700 aufzeigt, welche Tafelwerke und Ephemeriden die in der mathematischen Astronomie ausgewiesenen Kalendermacher jeweils genutzt und adaptiert haben, mit welchem Nachdruck an verlässlichen astronomischen Prognosen gearbeitet wurde und wie seit den Kalendern Peter Crügers ein fester Platz für die Diskussion naturphilosophischer (auch kosmologischer) Fragen geschaffen wurde.
Dass namhafte Literaten durch ihre Werke erfolgreiche Kalenderreihen initiierten bzw. selbst in vielfältiger Funktion - als (Co-)Autoren, aber auch als Gestalter und Exegeten von Titelblättern - in kalendarischen Produktionsverbünden eine Rolle spielten, zeigen Peter Heßelmann am Beispiel Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens und den simplicianischen Jahreskalendern sowie Rosmarie Zeller für Sigmund von Birken teils in maßgeblicher Erweiterung und Korrektur des bisherigen Forschungsstandes. Der Narrativik von Kalendertexten aus der Altenburger Sammlung spürt Norbert D. Wernicke nach.
Waren Kalender wegen ihrer umstrittenen 'abergläubischen' Elemente, namentlich der astrologischen Vorhersagen und Verfahren, schon früh Gegenstand der Kritik, so ist das Bildungs- und Stabilisierungspotential der auf eine breite Käuferschicht ausgelegten Produkte nicht zu überschätzen. Holger Böning zeigt, wie die Kalender in ihren Diversifikationen maßgeblich zur Volksaufklärung beitragen konnten: Nicht durch einen Bruch mit den Lesegewohnheiten und -bedürfnissen der Rezipienten, wie es die sogenannten 'Reformkalender' programmatisch und mehr oder weniger geschickt und erfolgreich zeitigten (dazu Reinhart Siegert), sondern durch 'aufklärende' Änderungen in kleinen Schritten und im intermedialen Verbund von Text und Bild, so dass Tradition und Innovation eine fruchtbare (und gut verkäufliche) Symbiose eingingen. Weiter exemplifiziert wird dieser Befund durch Klaus-Dieter Herbst mit Blick auf das (früh-)aufklärerische Potential und Anliegen der Altenburger Kalender, insbesondere des für 1697 erstmals gestellten "Altenburgischen Haushaltungs= und Geschichts=Kalender".
Weitere Aspekte, die im Fokus der Beiträge stehen, sind landeskundlicher, ethnographischer und politischer Art (zu europäischen Nachrichtennetzwerken und zur Aufnahme von Informationen über Polen in die Kalender Włodzimierz Zientara; zur Präsentation von Außereuropa mit Blick auf die "Kultur des Extrakts" [338], auf Darstellungsmechanismen sowie die Wissensorganisation und -popularisierung in Schreibkalendern des 17. Jahrhunderts Flemming Schock; zum 1856 begründeten "Ermländischen Hauskalender" mit seinem spezifischen lokalen Zuschnitt und seinen identitätsstiftenden und stabilisierenden Funktionen Barbara Sapała). Dazu treten Untersuchungen zur Endzeitthematik in Kalendern um das Jahr 1670, für das - einmal mehr - das Weltenende prophezeit worden war (Jana Maroszová), zum 'Recycling' populärer Räuberthemen in den Kalendern und zu deren Verortung im dynamischen Mediensystem (Daniel Bellingradt), zur Präsenz spezial- und universalgenealogischer Informationen in Kalendern (Volker Bauer) sowie zum jüdischen Kalenderwesen und seiner Vermittlung in Gottfried Kirchs "Christen-, Jüden- und Türcken-Kalender" (Bill Rebiger).
Die aktuelle Forschung zur Polyfunktionalität frühneuzeitlicher Paratexte und zu Text-Bild-Relationen wird durch die Beiträge von Alexander Rosenbaum und Sabine Schlegelmilch bereichert: So erweist eine exemplarische Untersuchung von Titelblättern und Frontispizen aus der Altenburger Sammlung ihre kauf- und lektüresteuernde Funktion und zeigt, welches Forschungspotential die jüngst entdeckten Kalenderreihen hinsichtlich der Frage nach Strategien, Kontinuitäten und Entwicklungen bei der Gestaltung der jährlich wiederkehrenden Produkte bieten. Auch für den Mediziner Johannes Magirus liefert die Sammlung maßgeblich neue Erkenntnisse, umfasst sie doch fast die gesamte Serie seines "Alten und Neuen Schreib-Calender". Von hohem Erkenntniswert sind dabei die Paratexte, die Schlegelmilch für die Zeit von 1646 bis 1651 auf ihre spezifischen Funktionen hin für die überregionale Inszenierung und 'Vermarktung' des Verfassers, seines gedruckten Produktes und anderer Leistungen, mithin für seine soziale und berufliche Etablierung, interpretiert.
Der Band zeichnet sich durch eine großzügige Ausstattung mit Farbabbildungen und durch ein Personenregister aus. Er ist solide redigiert. [3] Die Beiträge weisen fast durchweg ein hohes, ansprechendes wie anregendes Niveau auf. [4] In ihrer Zusammenschau demonstrieren sie eindrücklich, wie sich die Schreibkalender mit ihren Ausdifferenzierungen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts interaktiv und polyvalent im frühneuzeitlichen Mediensystem positionieren. Der Sammelband ist Schaufenster wie Sprungbrett für eine fächerübergreifende Annäherung an eine lange Zeit mit Vorbehalten belegte Textsorte, für deren weitere Erforschung die rezenten Sammlungsfunde eine neue Ära begründet haben.
Anmerkungen:
[1] Das Stadtarchiv in Altenburg (Thüringen) beherbergt etwa 3700 Kalender für die Jahre 1644 bis 1861, die nach Jahrgängen gebunden vorliegen. Die Genese der Sammlung ist in erster Linie den kontinuierlichen, gezielten Ankäufen durch den Stadtrat zu verdanken (dazu der Beitrag von Gustav Wolf mit Blick auf den Altenburger Kalendermarkt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts). Ein Zugriff auf die rund 1500 digitalisierten und verschlagworteten Exemplare bis zum Jahr 1710 ermöglicht das Kalenderportal der ULB Jena (http://www.urmel-dl.de/Projekte/Kalenderblätter.html, Abruf 26.08.2013). Der Krakauer Bestand befindet sich in der Biblioteka Czartoryskich (Verlagsarchiv Endter, Nürnberg mit einem Umfang von etwa 2000 Exemplaren für die Jahre 1649 bis 1849). Er wurde dort 2006 von Klaus Matthäus lokalisiert und im Folgejahr mit Klaus-Dieter Herbst gesichtet.
[2] Träger der Tagung waren das Institut Deutsche Presseforschung der Universität Bremen, das Stadtarchiv und die Stadt Altenburg sowie die Geschichts- und Altertumsforschende Gesellschaft des Osterlandes e.V. Ein von Holger Böning verfasster Tagungsbericht ist online zugänglich: http://www.presseforschung.uni-bremen.de/Tagungsbericht_Altenburg.pdf (Abruf 26.08.2013).
[3] Allerdings wurden die Ansetzung von Zeitschriftenartikeln und die Lagenzählung nicht vereinheitlicht; Titel werden teils mit, teils ohne Verlag und Reihe angegeben. Der Aufsatz von Peter Heßelmann bietet mit Abb. 1 eine Dublette von Abb. 4 und nicht das korrekte Frontispiz.
[4] Hinter seinen Möglichkeiten zurück bleibt etwa der Beitrag von Kelly M. Smith, der dem Verhältnis von Astrologie, Astronomie und Naturphilosophie in den Kalendern gewidmet ist. Der aus dem Englischen übersetzte Aufsatz weist neben formalen Monenda einige nicht nachvollziehbare Aussagen auf (insb. 471). Abgesehen von einer gewissen Unschärfe und Abundanz sind die Thesen zu stark heruntergebrochen. Ein Blick auf die Kritik an astrologischen Vorhersagen in den Kalendern fehlt. Der Umgang mit antiken Texten ist wenig souverän (469, 472), die aus den frühneuzeitlichen Titeln abgeleiteten lateinischen Bezeichnungen sind nicht korrekt (470), Seiten / Lagen der Drucke werden nicht verzeichnet.
Marion Gindhart